«Akte Grüninger»: Der Flüchtlingshelfer und die Rückkehr der Beamten

Nr. 4 –

1992 eine Serie in der WOZ, 1993 ein Bestseller, 1997 ein Dokumentarfilm mit Überlebenden, 2014 ein fiktiver Spielfilm: Eine kurze Geschichte der zwanzigjährigen Auseinandersetzung mit dem Fall des Polizeihauptmanns Paul Grüninger.

Paul Grüninger liess vom Sommer 1938 bis zum Frühjahr 1939 etliche Hundert Verfolgte aus dem nationalsozialistischen «Dritten Reich» in die Schweiz einreisen.

Zwanzig Jahre sind seit Erscheinen meines Buchs «Grüningers Fall» vergangen, fünfzehn Jahre seit der vollständigen Rehabilitierung des St. Galler Flüchtlingsretters, die zuvor dreissig Jahre lang immer wieder gefordert worden war: Jetzt kommt, nach einem Dokumentarfilm von Richard Dindo (1997), ein Grüninger-Spielfilm von Alain Gsponer in die Kinos. «Akte Grüninger. Die Geschichte eines Grenzgängers» hat an den Solothurner Filmtagen Premiere.

Fast alle ZeitzeugInnen, die wir seinerzeit zum Fall Grüninger befragten – die Flüchtlinge von 1938 und 1939, die ehemaligen Polizisten, die Emigrantenschlepper, die BewohnerInnen der Dörfer an der Grenze – sind in den letzten Jahren gestorben. Ohne sie hätte ich Grüningers Geschichte niemals schreiben können. Durch ihr Verstummen ist die Auseinandersetzung mit diesem Stoff in eine neue Phase getreten.

Paul Grüninger liess als St. Galler Polizeikommandant vom Sommer 1938 bis zum Frühjahr 1939 etliche Hundert, vielleicht mehrere Tausend jüdische und andere Verfolgte aus dem nationalsozialistischen «Dritten Reich» in die Schweiz einreisen. Er hat diese Flüchtlinge nicht, wie vom Bundesrat vorgeschrieben, zurückgeschickt, und er hat ihnen damit das Leben gerettet.

Um sie vor den Bundesbehörden zu schützen, liess er falsche Einreisedaten in die Akten schreiben. Wenn Flüchtlinge weiterreisten, verwendete er deren Aktennummern noch einmal. Unter anderem schrieb er Briefe nach Dachau und sicherte KZ-Häftlingen eine Aufenthaltserlaubnis zu. In einem Fall soll er Flüchtlinge sogar mit dem Polizeiwagen in Deutschland abgeholt haben, oder er lud ein bedrohtes, an der Grenze zurückgewiesenes Ehepaar zu einer Einvernahme nach St. Gallen vor.

Er starb als armer Mann

Im März 1939 wurde der Landjägerhauptmann vom Regierungsrat fristlos entlassen. Zwei Jahre später verurteilte ihn das Bezirksgericht St. Gallen wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung zu einer Busse. Verfemt und verdächtigt und von einigen Leuten bis heute als Frauenheld und korrupter Betrüger, ja sogar als Nazi verleumdet, fand der ehemalige Polizeichef für den Rest seines Lebens keine feste Stelle mehr: Er starb 1972 als armer Mann.

Eine Rehabilitierung Paul Grüningers, dem das Bezirksgericht 1940/41 nach genauer Untersuchung ausschliesslich ehrenwerte Motive attestierte, wurde vom St. Galler Regierungsrat zwischen 1968 und 1991 fünf Mal abgelehnt. Erst nach Erscheinen meines Buchs im Herbst 1993 – zuvor hatte ich eine Serie über den Fall in der WOZ publiziert – und nach heftigen politischen Kämpfen erreichten wir die Rehabilitierung in drei Schritten: durch politische Erklärungen des St. Galler Regierungsrats (1993) und des Schweizerischen Bundesrats (1994), durch die Wiederaufnahme des 1940 gegen den Hauptmann geführten Prozesses und den Freispruch Grüningers vor dem Bezirksgericht St. Gallen (1995) sowie durch eine materielle Wiedergutmachung in der Höhe von 1,3 Millionen Franken (1998), die die Nachkommen des Polizeikommandanten an die neu gegründete Paul-Grüninger-Stiftung weiterreichten.

Die einzelnen Schritte und Details dieses Rehabilitierungsprozesses sind heute wissenschaftlich erforscht: Der deutsche Historiker Wulff Bickenbach hat eine umfangreiche Dissertation erarbeitet, die 2009 unter dem Titel «Gerechtigkeit für Paul Grüninger. Verurteilung und Rehabilitierung eines Schweizer Fluchthelfers» im Böhlau-Verlag in Köln erschienen ist. Für seine Untersuchung wurden Bickenbach amtliche Dossiers bis ins Jahr 1998 geöffnet, die – zusammen mit den privaten Akten der Familie Grüningers, Dokumenten des St. Galler Vereins Gerechtigkeit für Paul Grüninger, meinem Forschungsarchiv und weiteren Beständen – ganz erstaunliche, auch ernüchternde Einblicke in die internen Debatten der St. Galler Regierung ermöglichen. Man kann jetzt im Detail nachlesen, wie der Regierungsrat sich gegen jeden Schritt der Rehabilitierung sträubte und wehrte, welche Massnahmen oder intriganten Tricks sich Politiker und Beamte gegen die Nachkommen Grüningers ausdachten und wie die schrittweisen Zugeständnisse an die als unverschämt und subversiv eingeschätzten Verteidiger dieses Mannes nur unter grösstem öffentlichem Druck zustande kamen.

Auch die St. Galler Flüchtlingspolitik zwischen 1933 und 1945 ist heute viel umfassender untersucht, als sie es damals war. Im Zusammenhang mit der Debatte um Grüningers Rehabilitierung sprach das Kantonsparlament 1997 einen Kredit, mit dem der Historiker Martin Jäger alle vorhandenen St. Galler Flüchtlingsakten zwischen 1920 und 1950 sichten und systematisch erschliessen konnte. Nach Jägers archivalischer Vorarbeit schrieb der Journalist und spätere NZZ-Redaktor Jörg Krummenacher im Auftrag der Regierung ein lesenswertes Buch mit dem Titel «Flüchtiges Glück. Die Flüchtlinge im Grenzkanton St. Gallen zur Zeit des Nationalsozialismus», das 2005 im Zürcher Limmat-Verlag erschienen ist.

Die Perspektive der Flüchtlinge

Die Werke Bickenbachs und Krummenachers entstanden, kurz nachdem die Schweizer Politik zwischen 1933 und 1945 durch die Berichte der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg (Bergier-Kommission) noch einmal gründlich erforscht und neu dargestellt worden war. In ihrem Flüchtlingsbericht von 1999 nahm diese Kommission eine ähnliche Haltung ein, wie ich sie in «Grüningers Fall» aufgrund der vielen Gespräche mit Überlebenden gefunden hatte. Nicht die Sichtweise der Behörden stand im Mittelpunkt, nicht eine abstrakte, von oben definierte Staatsraison, sondern die Perspektive der Flüchtlinge, die entweder aufgenommen oder abgewiesen wurden: das Schicksal jener Leute also, bei denen es ums Überleben ging.

Für die verfolgten JüdInnen spielten die FluchthelferInnen eine zentrale Rolle. Nach Grüningers Rehabilitierung schien es folgerichtig, auch die übrigen Leute zu rehabilitieren, die im Laufe der Nazizeit in der Schweiz für ihre Hilfeleistungen an Flüchtlinge bestraft worden waren. Ein entsprechender Vorstoss von SP-Nationalrat Paul Rechsteiner – er hatte seit 1984 für Grüningers Rehabilitierung gekämpft – führte nach langen Verhandlungen und Abklärungen zum Erfolg. Auf den 1. Januar 2004 trat ein «Bundesgesetz über die Aufhebung von Strafurteilen gegen Flüchtlingshelfer zur Zeit des Nationalsozialismus» in Kraft, das fünf Jahre lang gültig blieb: Betroffene FluchthelferInnen, ihre Nachkommen, aber auch Menschenrechtsorganisationen konnten während dieser Frist der Rehabilitationskommission der Bundesversammlung konkrete Fälle von Fluchthilfe zur Beurteilung vorlegen.

Die Kommission hatte ihrerseits die Möglichkeit, ein paar eigene Forschungen anstellen zu lassen und ein halbes Jahrhundert nach der Bestrafung die Urteile oder Strafbefehle gegen FluchthelferInnen aufzuheben. 137 Männer und Frauen hat die Rehabilitationskommission auf diese Weise gewürdigt – von der jüdischen Lehrerin Aimée Stitelmann aus Genf, die ihre Rehabilitation einige Monate vor dem Tod noch erlebte, über den bereits 1946 gestorbenen Zollbeamten Robert Matthey, der im Herbst 1942 eine österreichische Jüdin nicht zurück nach Frankreich abgeschoben hatte und dafür nach Kriegsende, im Oktober 1945, acht Monate Gefängnis bedingt kassierte.

Mehr als fünfzig HelferInnen sind aufgrund von Gesuchen der 1998 gegründeten Paul-Grüninger-Stiftung rehabilitiert worden. Dazu gehörten jene Fluchthelfer, die in meinem Buch vorkommen, aber auch zahlreiche Fischer aus Hochsavoyen, die im Sommer 1942 fast Nacht für Nacht JüdInnen über den Genfersee ans Schweizer Ufer ruderten, Arbeiterinnen und Bauern, die im Jura oder in den Alpen ihre Passeurdienste leisteten, oder beherzte Bürgerinnen wie die Tierarztgattin Marthe Uehlinger aus Basel, die 1939 mit ihrem Mann, zwei Angestellten und einer Untermieterin einem sechzehnjährigen jüdischen Mädchen zu einem falschen Passierschein verhalf und dafür vor Strafgericht kam. Seit 2009 ist die Rehabilitierung der FluchthelferInnen abgeschlossen, eine umfassende Darstellung ihrer Geschichten steht noch aus.

Ein erfundener Bundespolizist

Wenn die ZeitzeugInnen tot sind, verändert sich die Vergangenheit. Zum Beispiel gewinnt die behördliche Darstellung, die in Akten festgehalten wurde, wieder an Gewicht. Während Richard Dindo seinen Dokumentarfilm «Grüningers Fall» 1997 mit Überlebenden drehen konnte, wird die Geschichte in Alain Gsponers «Akte Grüninger» jetzt fiktionalisiert. Während mein Buch und Dindos Film die traditionelle Perspektive umkehrten und aus der Sicht kleiner Leute auf den gerechten Landjägerhauptmann und die verbrecherische Flüchtlingspolitik blickten, zeigt der Spielfilm den Fall aus der Sicht von Beamten: Eigentliche Hauptperson ist ein Bundespolizist, der Grüninger und seine Flüchtlinge im Auftrag der Berner Fremdenpolizei ins Verderben stürzt, obwohl er selbst sich im Lauf der Untersuchung sympathisch läutert und am Ende sogar höchstpersönlich zwei Flüchtlingskinder rettet.

Dieser Bundespolizist, den es in Wirklichkeit nie gegeben hat, wurde aus dramaturgischen Gründen erfunden. Inhaltlich bedeutet er die Rückkehr zu einer Perspektive von oben.

WOZ-Redaktor Stefan Keller hat Drehbuchautor Bernd Lange und Regisseur Alain Gsponer bei der Produktion von «Akte Grüninger. Die Geschichte eines Grenzgängers» historisch beraten.

Stefan Keller: «Grüningers Fall. Geschichten von Flucht und Hilfe». Fünfte, erweiterte Auflage. Zürich 2014. Rotpunktverlag.

Paul-Grüninger-Stiftung: www.paul-grueninger.ch

Solothurn, Reithalle, 
Mo, 27. Januar 2014, 21 Uhr.

Akte Grüninger. Die Geschichte eines Grenzgängers. Regie: Alain Gsponer. Schweiz 2014