Care-Arbeit: Grenzerfahrungen in der Betreuung von Betagten
Sie pendeln zwischen Ost- und Westeuropa, um sich hier in Privathaushalten um ältere Menschen zu kümmern. Mit der Coronakrise ist dieses Modell auf einen Schlag infrage gestellt. Eine Spurensuche.
«Es waren schwierige Tage», berichtet Julia Kowalski* über Skype. «Ich fürchtete schon, mit meinen Koffern auf der Strasse zu stehen.» Mitte März erfährt sie, dass die Familie, in der sie als Betreuerin arbeitet, sie nicht mehr weiter anstellen will. Trotz gegenteiliger Versprechungen.
«Mit der Stelle habe ich gleichzeitig die Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz verloren. Und das Dach über dem Kopf.» Das alles zu einem Zeitpunkt, an dem viele Länder ihre Grenzen schliessen. Mit Glück sichert sich Kowalski ein Ticket für den allerletzten Flug von der Schweiz zurück nach Polen. Am 30. März landet sie in Warschau und muss erst mal zwei Wochen in Quarantäne.
Wenig Freizeit, tiefe Löhne
Julia Kowalskis Geschichte ist kein Einzelfall. Die 61-jährige Polin ist eine von Tausenden Care-ArbeiterInnen aus Osteuropa, deren Arbeitseinsätze in der Schweiz durch die Coronakrise von einem Tag auf den anderen infrage gestellt sind. Die sogenannten Live-in-BetreuerInnen, allermeist sind es Frauen, betreuen ältere Menschen in deren Privathaushalt, wo sie gleichzeitig auch wohnen. Oft sind sie rund um die Uhr auf Abruf. Zwischen ihren mehrwöchigen Arbeitseinsätzen reisen sie in der Regel in ihr Herkunftsland zurück. Angestellt sind sie entweder direkt beim Betreuungshaushalt oder bei einer der rund siebzig Vermittlungs- und Verleihagenturen.
Schon vor der Coronapandemie standen die BetreuerInnen in einer starken Abhängigkeit von den Agenturen und Betreuten – mit wenig Freizeit und tiefen Löhnen. Privathaushalte sind vom Arbeitsgesetz ausgenommen. Dessen Bestimmungen zu Arbeits- oder Ruhezeiten oder zum Gesundheitsschutz gelten für die Live-in-Betreuungskräfte deshalb nicht. BetreuerInnen wie Julia Kowalski können zudem in der Schweiz keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld geltend machen – womit die soziale Absicherung ins Herkunftsland verschoben wird.
Mit der Pandemie hat sich die Situation für viele Live-in-BetreuerInnen weiter verschärft. Zahlreiche Care-ArbeiterInnen hätten in den letzten Wochen ihre Arbeitseinsätze in der Schweiz antreten sollen. Weil Grenzen geschlossen und Verkehrsverbindungen unterbrochen sind, stecken viele in ihren Herkunftsländern fest. Über die Schweizer Grenze kommt nur noch, wer eine Meldebescheinigung oder eine Arbeitsbewilligung vorweisen kann. Erreichen Care-ArbeiterInnen ihren Arbeitsort nicht mehr, verlieren sie oft auf einen Schlag ihr gesamtes Einkommen. «Privathaushalte können als Arbeitgeber keine Kurzarbeitsgelder beantragen», bestätigt das Staatssekretariat für Wirtschaft.
Weiterarbeiten bis auf unbestimmt
In der Schweiz fällt durch die Grenzschliessungen in zahlreichen Haushalten von SeniorInnen die geplante Ablösung für die Betreuerin aus. Gemäss Beat Vogel, Leiter von Caritas Care, hätten sich viele Care-ArbeiterInnen bereit erklärt, vorerst in der Schweiz zu bleiben. «Die meisten möchten in der gegenwärtigen Situation die schwierige Heimreise nach Rumänien oder in die Slowakei nicht auf sich nehmen. Und sie sind froh, ihr Einkommen in der Krise weiterhin sichern zu können», sagt er.
Aber nicht nur logistische und finanzielle Gründe bewogen die BetreuerInnen dazu, ihre Einsätze zu verlängern, sagt Barbara Metelska. Die Psychologin aus Polen hat selber viele Jahre als Live-in-Betreuerin gearbeitet. Nun steht sie ihren ehemaligen KollegInnen auf freiwilliger Basis im gewerkschaftlichen Netzwerk Respekt@vpod beratend zur Seite. Viele sähen sich auch moralisch verpflichtet, in der Schweiz zu bleiben: «Sie wollen die Person, die sie betreuen, in dieser Situation nicht im Stich lassen.» Das könne sehr belastend sein, führt Metelska aus: «Die Betreuerinnen wissen nicht, wann sie ihre Familie wiedersehen können. Sie möchten in dieser Krisenzeit lieber zu Hause bei ihren Liebsten sein.»
Nicht nur die Distanz zur Familie sei für die in der Schweiz verbliebenen BetreuerInnen in der momentanen Situation belastend, beobachtet Metelska. Die Grundproblematik von Live-in-Arbeitsverhältnissen, nämlich die fehlende Freizeit und die soziale Isolation im Haushalt, habe sich verschärft: «Einige Angehörige verbieten den Frauen, das Haus zu verlassen. Sie fürchten, dass sie das Virus mitbringen könnten. Das ist unmenschlich und rechtlich natürlich nicht zulässig.» In der aussergewöhnlichen Lage sind die Care-ArbeiterInnen nun erst recht sozial isoliert.
Hinzu kommt, dass Angehörige, die bisher die Care-ArbeiterInnen am Wochenende abgelöst und Letzteren damit einen Ruhetag ermöglicht haben, nun teilweise fernbleiben. Sie wollen damit die Ansteckungsgefahr mindern. Aus dem gleichen Grund haben einzelne Haushalte auch die Ablösung durch die Spitex oder das Rote Kreuz sistiert. Für die betroffenen BetreuerInnen heisst das nun, dass sie über Tage und Wochen fast pausenlos arbeiten. Beat Vogel von Caritas Care bestätigt: «Es ist derzeit eine Herausforderung, sicherzustellen, dass die Angehörigen sich nicht aus ihrer Verantwortung ziehen.»
Ein Gelegenheitsfenster?
Nach zweiwöchiger Quarantäne kann Julia Kowalski nach Ostern endlich ihre Familie wiedersehen. Das Erlebte hat ihr zugesetzt: Sie brauche jetzt etwas Erholungszeit. Dann werde sie sich um eine neue Arbeitsstelle in der Schweiz bemühen. Die ausgebildete Marketingfachfrau sieht in der aktuellen Situation auch eine Chance: «Auf die Firmen wird eine Lücke zukommen, wenn nach einer Grenzöffnung erst mal alle Betreuerinnen nach Hause zu ihren Familien reisen. Das könnte eine Chance für uns sein, bessere Bedingungen und höhere Löhne auszuhandeln.»
Auch Barbara Metelska hofft, dass sich in der gegenwärtigen Situation für einige Care-ArbeiterInnen ein Gelegenheitsfenster auftut. Familien in der Schweiz erfahren beispielsweise gerade selber, was es bedeutet, wochenlang die eigenen Angehörigen nicht mehr besuchen zu können – etwas, was für die Care-ArbeiterInnen Alltag ist. «Vielleicht blicken sie in Zukunft anders auf die Arbeit der Betreuerinnen.»
Die Pandemie mag in gewissen Fällen zu einer erhöhten Sichtbarkeit und Wertschätzung der von den Live-in-Betreuerinnen verrichteten Arbeit führen. Insgesamt bleibt ihre Situation jedoch weiterhin prekär: Denn nicht nur hat es der Bundesrat bis heute verpasst, den Privathaushalt als Arbeitsort dem Arbeitsgesetz zu unterstellen. In der Krise fallen nun die meisten von ihnen durch die Maschen der bundesrätlichen Rettungsschirme.
Gleichzeitig zeigt die Situation einmal mehr, wie fragil und prekär ein Altenbetreuungssystem ist, das auf die Lohndifferenz zwischen Ost- und Westeuropa baut und Arbeitskräfte nur temporär und über mehrere Landesgrenzen hinweg rekrutiert. Die Kosten der Krise werden auf MigrantInnen und deren Familien verschoben. Die Alternative wäre, die Rechte von Care-ArbeiterInnen auszuweiten und Care-Arbeit so zu organisieren und zu bezahlen, dass sie auch in der Schweiz ein existenzsicherndes Leben ermöglicht.
Die Autorinnen forschen zu migrantischer Care-Arbeit in Privathaushalten. Der Text ist im Rahmen von Diskussionen innerhalb der Denknetz-Fachgruppe Prekarität entstanden.
* Name von der Redaktion geändert.