Leser:innenbriefe
«Lesende» über Bord
«In eigener Sache: Liebe Leser:innen», WOZ Nr. 39/21
Diskriminierung lässt sich nicht vermeiden, egal ob durch den Doppelpunkt oder das Binnen-I oder das generische Maskulinum. Interessant ist, die Diskriminierung welcher Gruppen man – in diesem Falle eine Redaktion – eher bereit ist hinzunehmen. Das sagt einiges über die sozial- und gesellschaftspolitische Grundströmung aus, der sich zum Beispiel Redaktionen anschliessen (oder hinterherschwimmen?).
Ebenso wie die Migros (bisher Genoss*innen statt alt «Genossenschaftsmitglieder», das sogar im Singular perfekt funktioniert) werft ihr die geschlechtsneutralen «Lesenden» den schillernden «Leser:innen» zugunsten über Bord.
Wolfgang Beywl, per E-Mail
Ob Binnen-I, Doppelpunkt, Sternchen oder Unterstrich – sämtliche feministischen Schreibweisen leiten sich aus dem generischen Femininum ab: ÄrztInnen, Bäuer:innen, Student*innen, Psycholog_innen. Die Folge: (Cis-)Männer werden unsichtbar gemacht, sie sind bloss mitgemeint. Kommt uns das bekannt vor? So viel zu Gleichbehandlung und Inklusion. Die Sonderzeichen benachteiligen übrigens nicht nur Blinde und Sehbehinderte, sondern auch Menschen, die an einer Leseschwäche leiden, und solche, die Deutsch als Fremdsprache lernen und praktizieren.
Raffael Steudler, per E-Mail
Obsessiv
«Zertifikatspflicht: Wer will ‹Bildung für alle›?», WOZ Nr. 38/21
Zehntausende von Studierenden in der Schweiz sind einem faktischen Impfzwang unterworfen, wenn sie einigermassen unbeschwert ihr Recht auf Bildung wahrnehmen wollen. Es geht um die Impfung gegen eine Krankheit, die bei jungen Leuten nachweislich äusserst selten schwer verläuft. Es stellt sich die Frage, ob für diesen schwerwiegenden, äusserst kurzfristig verfügten Eingriff in die Grundrechte junger Menschen eine hinreichende Begründung vorliegt. Was die WOZ aus diesem Thema gemacht hat, war für mich eine Enttäuschung. In mittlerweile obsessiver Art wird jede Regung von Leuten, die sich (bisher) gegen eine Coronaimpfung entschieden haben, vorab nach möglichen rechtsextremen Dummheiten abgesucht. Zur Not hilft ein gemäss WOZ vermutlich alkoholisierter Irrläufer mit widerwärtigen Holocaust-Vergleichen, der sich vor der ETH herumtreibt. Und sonst bieten die einschlägigen Social-Media-Plattformen immer Stoff genug. Und schon sind die zertifikatskritischen Studierenden mit einem Generalverdacht belegt. Wohlgemerkt: Wachsamkeit gegenüber rechtsextremen Tendenzen ist mir sehr wichtig. Ebenso wichtig fände ich, dass die persönlichen Impfentscheide aller Menschen respektiert werden. Es sind immer noch über vierzig Prozent der Bevölkerung, die auf eine Coronaimpfung verzichten. Ihre Gründe für diesen Entscheid sind so bunt wie die Schweiz.
Rico Kessler, Rünenberg
Gesellschaftlich berechtigt
«Pandemie: Die Impfung ist ein Privileg», WOZ Nr. 27/21
Der Abobetrag wird fällig. Zum ersten Mal zögere ich. Abgesehen von Berichten über die Zustände im Gesundheitswesen ist eure Coronaberichterstattung für mich schwer erträglich. Im erwähnten Beispiel betreibt die Redaktorin Impfwerbung und wendet das Freund-Feind-Schema (geimpft – ungeimpft) an. Es ist enttäuschend, dass auch die WOZ so vereinfachend vorgeht und damit die gesellschaftliche Spaltung vorantreibt. Beim Thema Corona ist es schwierig, an gesicherte Informationen heranzukommen. Man kann alles lesen, und auch das Gegenteil davon. Die WOZ bietet mir da keine Orientierung. Räumt doch einmal auf mit all den vielen Fragen, die es zum Thema Corona gibt, indem ihr sauber recherchiert, sorgfältig argumentiert und mit Quellen belegt. Die Aussagen der Redaktorin sind mir jedenfalls zu pauschal und helfen nicht weiter. Schade finde ich auch, dass viele Argumente der Massnahmengegner:innen gar nicht erst thematisiert werden (zum Beispiel das Thema Zensur u. v. m.). Bei der Impfdebatte glaube ich zudem, dass es nicht nur um diffuse Ängste geht, sondern auch um gesellschaftliche Brüche, die sich darin spiegeln. Viele sind nicht einverstanden mit der Art, wie die Krise bewältigt werden soll (zum Beispiel: Warum wird nichts gegen die desolaten Zustände im Gesundheitswesen unternommen?), und können sich Alternativen vorstellen. Viele wollen gar nicht in die Vor-Corona-Normalität zurück, sondern wünschen sich gesellschaftliche Veränderungen (zum Beispiel, um die Klimakrise zu bewältigen). Impfen, nur damit es weitergehen kann wie vorher? Nein! Medizinisch gesehen mögen solche Argumentationslinien fragwürdig sein, aber gesellschaftlich sind sie berechtigt. Mit der Schubladisierung dieser Menschen unter die ideologisch Verblendeten wird jedenfalls niemand zum Impfen motiviert!
Samuel Leemann, Pfäffikon ZH