Parlamentswahlen in Frankreich : Wenn der Schildkröte Flügel wachsen

Nr. 23 –

Jean-Luc Mélenchon hat geschafft, was viele französische Linke seit Jahren fordern: Bei den Parlamentswahlen tritt ein neues linkes Bündnis mit gemeinsamen Kandidat:innen an. Sollte der Coup gelingen, steht Präsident Emmanuel Macron vor einem Dilemma.

Schlau, ausdauernd – und am Ende liegt sie vorn. So wie die Schildkröte in der berühmten Fabel des Schriftstellers Jean de La Fontaine am Ende den Hasen besiegt, will auch Jean-Luc Mélenchon mit seinem neuen Linksbündnis Nupes am kommenden Wochenende die Mehrheit im französischen Parlament erkämpfen und damit Präsident Emmanuel Macron die Stirn bieten. Mehr noch: Mélenchon, Spitzname «la tortue» (die Schildkröte), will eine politische Zeitenwende einleiten, ein neues linkes Zeitalter.

Nach den Präsidentschaftswahlen im April gelang Mélenchon tatsächlich, was viele Linke seit Jahren gefordert hatten: In tagelangen Verhandlungen erreichte er einen Zusammenschluss verschiedener linker Gruppierungen, die nun unter dem Namen «Nouvelle union populaire, écologique et sociale», griffig als «Nupes» abgekürzt, antreten. Dieses Bündnis soll die bisherige Spaltung überwinden, die der Linken in den letzten Jahren jegliche Machtoption verbaut hat. Eine solche ist gemäss derzeitigen Umfragen nicht unrealistisch: Nupes liefert sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der – erst kürzlich umbenannten – Macron-Partei Renaissance. Zumindest die bisherige absolute Mehrheit im Parlament dürfte Macron verlieren.

Arrogant, selbstverliebt? Na und?

Mélenchons wichtigste Verbündete sind dabei die Grünen sowie die Kommunistische und die Sozialistische Partei. Letztere hatte sich lange Zeit gegen ein linkes Bündnis gesträubt und Mélenchon noch im Präsidentschaftswahlkampf vor zwei Monaten scharf kritisiert. Doch nach einer beeindruckenden Aufholjagd im Frühjahr landete dieser in der ersten Wahlrunde mit nur einem Prozentpunkt Rückstand hinter der rechtsextremen Kandidatin Marine Le Pen. Der verpasste Einzug in die Stichwahl war nicht zuletzt der Vielzahl linker Kandidat:innen für das Präsidentschaftsamt geschuldet – wie schon 2017. Selbst die letzten Zweifler:innen mussten danach einsehen, dass die politische Wiedergeburt der Linken nur mit vereinten Kräften und unter der Führung von Jean-Luc Mélenchon gelingen kann.

Der Siebzigjährige ist ein Urgestein der französischen Politik; seine Karriere begann bereits Ende der siebziger Jahre in der Sozialistischen Partei, die er 2008 im Streit verliess. Bereits im April, nach dem Verpassen der Stichwahl, kündigte er an, Frankreichs neuer Premierminister werden zu wollen. «Grössenwahnsinnig», kommentierten damals viele. Überhaupt wird mehr über den Charakter Mélenchons gesprochen als über sein Programm. Das Bild, das von ihm gezeichnet wird, ist dabei überwiegend unsympathisch, und in der Tat wirkten einige seiner Auftritte in der Vergangenheit besserwisserisch, nahezu arrogant.

Darin unterscheidet er sich nicht vom amtierenden Präsidenten Macron, der auf weite Teile der Bevölkerung wie ein Alleinherrscher wirkt. In der Fixierung auf Personen im politischen System Frankreichs sehen Politolog:innen einen der Hauptgründe für dessen Instabilität. Es gebe nämlich nicht, wie oft behauptet wird, ein mangelndes politisches Interesse in der Bevölkerung, konstatierte kürzlich der Politologe Yves Sintomer in einem Interview mit der Tageszeitung «La Croix». Er glaube nicht an eine Entpolitisierung, denn «Klimamärsche, die #MeToo-Bewegung, die Streiks gegen die Rentenreform oder die Gelbwestenproteste zeigen das Gegenteil». Sintomer schlussfolgert: «Die Gesellschaft politisiert sich weiter, aber sie tut es immer weniger im Rahmen der existierenden Parteien oder bei Wahlen.» Ein anderer Führungsstil, eine Reform der politischen Institutionen? Mélenchon verspricht es, aber er verkörpert es nicht.

Innerhalb seiner Partei La France insoumise (LFI), 2016 gegründet, haben sich in seinem Schatten zwar neue, junge Figuren etablieren können, allen voran der 32-jährige Parteichef Adrien Quatennens, den viele bereits als Mélenchons Nachfolger handeln. Doch es fehlt der Partei an lokaler Verankerung, an Bürgermeister:innen, Gemeinderäten, Regionalpräsidentinnen. Und genau an diesem Punkt kommen die Sozialist:innen, die Grünen und die Kommunistinnen ins Spiel, die zwar bei den Präsidentschaftswahlen völlig abgeschlagen waren, doch nun bei den Parlamentswahlen den Ausschlag geben könnten, nämlich überall dort, wo ihre bereits lange vor Ort aktiven und etablierten Kandidat:innen nun für Nupes antreten.

Zerbröselte Parteien

Dass sich auch die einst staatstragende Sozialistische Partei dem linken Bündnis angeschlossen hat, zeigt exemplarisch, wie sehr die traditionellen Parteien um ihr politisches Überleben ringen. Der alte und neue Präsident Macron hat daran einen erheblichen Anteil. Mit seinem Slalomlauf zwischen rechter, neoliberaler Wirtschaftspolitik einerseits und einer Imagekampagne als grüngewaschener Führer einer Start-up-Nation gräbt er der gemässigten Linken und der moderaten Rechten gleichermassen das Wasser ab. Auch personaltechnisch haben sich viele ehemalige Sozialist:innen und Republikaner:innen «Jupiter» angeschlossen, wie Macron oft genannt wird. Schliesslich stehen sie vor den Ruinen ihrer zerbröselten Parteien, deren Wähler:innen eh schon zu Macron oder zu Le Pen und Mélenchon übergelaufen sind.

Was aber wird passieren, wenn Nupes wirklich an Renaissance und dessen Bündnispartner:innen vorbeizieht und Mélenchon Premierminister wird? Diese politische Konstellation, also ein Präsident und ein Premier aus entgegengesetzten Lagern, trägt den Titel «cohabitation», und eine solche gab es bisher drei Mal in der Fünften Republik. Ein Balanceakt, denn einerseits wäre es für Macron dann schwierig, an einer Politik festzuhalten, die von Nupes überwiegend abgelehnt wird. Andererseits stellt sich die Frage, wie das Linksbündnis sein 650 Punkte umfassendes Programm unter einem Präsidenten Macron wird umsetzen können – ein Programm, das ein stärkeres Eingreifen des Staates vorsieht.

Träumereien als Chance

Konkret geht es um die Rente ab sechzig Jahren, um grosse finanzielle Investitionen in den öffentlichen Dienst, allen voran im Bildungswesen und bei der medizinischen Versorgung, es geht um die Erhöhung des Mindestlohns und nicht zuletzt um Investitionen in den Klimaschutz. Die zunehmende Spaltung zwischen urbanen Zentren und der Peripherie soll gestoppt werden, abgehängte Bevölkerungsschichten in den Vorstädten oder auf dem Land wieder besser integriert werden. Kurz gesagt: Es ist der Traum von einer befriedeten Gesellschaft, in der der Wohlstand besser verteilt wird und Lasten und Chancen gerechter verteilt werden.

Das deutsche Nachrichtenmagazin «Spiegel» schrieb dazu: «Kein Traum ist für die französische Linke zu wild, um nicht geträumt zu werden. Nun haben sie endlich wieder jemanden, der ihnen verspricht, was sie hören wollen.» Gemeint war «der Demagoge» Jean-Luc Mélenchon. In Frankreich jedoch nehmen immer mehr Leute, vor allem auch in den Banlieues, die Schildkröte nicht als Träumer wahr, sondern als jenen Akteur, dem ein Neustart zugetraut wird.