Desinformationsökonomie: «Koffer voller Bargeld für Fremde im Internet»

Nr. 28 –

Rechtsextreme Provokateur:innen verbreiten Lügen und Hass im Netz – mit finanzieller Unterstützung der Werbebranche. Claire Atkin vom Tech-Watchdog Check My Ads will die Propagandist:innen durch den Entzug von Werbeeinnahmen entmachten.

Claire Atkin
«Steve Bannon versucht immer wieder, sich einzuschleichen, und wir fangen ihn immer wieder ab»: Claire Atkin von Check My Ads. Foto: Jon McMorran

«Millionen von Amerikaner:innen laufen wütend und verärgert herum und sind bereit zu kämpfen. Grund dafür ist eine grassierende Desinformationsseuche», sagt Claire Atkin. «Diese bereitet den Boden für mehr Gewalt bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2024.» Die Kanadierin gründete 2020 das Check My Ads Institute mit dem Ziel, Werbeeinnahmen für rechtsextreme Propagandist:innen, die Desinformationen im Internet verbreiten, zu blockieren. Im Zentrum ihrer neusten Kampagne steht der amerikanische Nachrichtensender Fox News, die laut Atkin wohl «lauteste Propagandaagentur weltweit». Sie mache Minderheiten aller Art, einschliesslich Frauen, zu Sündenböcken und bringe ihre Zuschauer:innen von der Realität ab: «Fox News vermittelt Menschen, die eine unglaubliche Macht in der Gesellschaft haben, das Gefühl, Opfer zu sein.» Diesen «Grundstein für Autoritarismus» will Atkin stoppen. Und zwar mit dem Entzug von Werbeeinnahmen auf deren Websites.

Druckkampagnen

Die Techmarketingfachfrau Claire Atkin wuchs in Kanada auf und lebt heute in Vancouver. Sie studierte internationale Wahlbeobachtung am Global Campus of Human Rights in Venedig. 2019 lernte sie ihre heutige Geschäftspartnerin Nandini Jammi aus Washington kennen. Beide waren zunehmend beunruhigt über die Art und Weise, wie in den USA Desinformationen zur Beeinflussung der Präsidentschaftswahlen eingesetzt wurden, und über die Rolle, die die digitale Werbeindustrie bei ihrer Verbreitung spielte. «Vertreter:innen der Werbebranche hatten behauptet, dass sie Lügen und Bigotterie nicht finanzieren wollen», sagt Atkin im Videogespräch mit der WOZ. Doch Werbekund:innen fanden ihre Anzeigen weiterhin auf Websites, die genau solches verbreiteten.

Mit ihrer Tech-Watchdog-Organisation Check My Ads lancieren Atkin und Jammi Druckkampagnen gegen sogenannte «ad exchangers» – also Google, Yahoo oder Amazon –, damit diese keine Werbung mehr auf Desinformationswebsites platzieren. Unterstützt werden sie von mehreren Zehntausend Freiwilligen, die die Führungskräfte der ad exchangers mit vorgefassten Kampagnen-E-Mails bombardieren. In einem E-Mail an Yahoo steht beispielsweise, dass Yahoo weiterhin foxnews.com monetarisiere, «obwohl das Unternehmen den Angriff auf das Kapitol vom 6. Januar unterstützt hat. Dies ist ein schwerwiegender Verstoss gegen die Richtlinien für Lieferpartner von Yahoo.» Die E-Mail endet mit einer Aufforderung, Fox News aus dem Yahoo-Werbenetzwerk zu entfernen.

Ad exchangers funktionieren als Werbeplattformen: Sie schalten im Auftrag von Firmen Anzeigen im Internet. Website- und Blogbetreibende müssen sich bewerben und ein Prüfverfahren durchlaufen, um Werbeanzeigen zu erhalten. Websites, die Lügen verbreiten und das Vertrauen in den demokratischen Prozess untergraben, gelten als «unsafe» oder ungeeignet für die Platzierung von Werbeanzeigen. Das Problem sei, dass die Prüfverfahren der Werbeplattformen völlig ungenügend seien, so Atkin: «Alle Websites, die Desinformationen verbreiten, werden bei diesen ad exchangers akzeptiert.»

Herauszufinden, welche ad exchangers Propagandaseiten finanzieren, ist einfach: Jede Website, auf der sie Werbeanzeigen platzieren, besitzt eine Datei namens ads.txt. Hier ist aufgelistet, welche Werbeplattformen die Seite mitfinanzieren. Beim Aufrufen von foxnews.com/ads.txt erscheinen unter anderem Google, Facebook und Yahoo.

Gemäss Atkin haben einzelne Firmen praktisch keine Kontrolle darüber, wo ihre Anzeigen landen, da diese vollständig bei den Werbeplattformen liege. «Unternehmen laufen quasi mit verbundenen Augen herum und verteilen Koffer voller Bargeld an Fremde im Netz», beschreiben Atkin und Jammi die Situation in einem ihrer Newsletter. Dabei geht es um gigantische Summen: Der Umsatz der digitalen Werbebranche wird für 2022 auf über 600 Milliarden Dollar geschätzt. Jährlich fliessen 2,6  Milliarden Dollar durch Werbung an Websites, die Desinformationen verbreiten. Der grösste ad exchanger ist Google, das nach Schätzungen von Check My Ads achtzig Prozent der Desinformationswirtschaft finanziert. «Die digitale Werbeindustrie ist der Bankautomat für Propagandaunternehmen, ein Blankoscheck für ihre wildesten Verschwörungstheorien», sagt Atkin. Die Branche sei wie Gas, Luft und ein Streichholz in den Händen der Propagandist:innen.

Die Entmachtung

Zu einer Explosion kam es schliesslich am 6. Januar 2021, als ein Mob gewaltsam das US-Kapitol stürmte. Nach den Unruhen begann Atkin zu recherchieren. Wer waren die grössten Aufrührer der Gewalt? Wer war am lautesten? Wer verdiente am meisten Geld mit Hassreden? Wer verbreitete die übelsten Verschwörungstheorien? Atkin und Jammi identifizierten die sechs Hauptverfechter der «Big Lie» – der grossen Lüge, dass Joe Biden die Präsidentschaftswahlen gestohlen habe: Steve Bannon («The War Room», «Real America’s Voice», «populist.press», Rumble), Charlie Kirk (charliekirk.com, Rumble), Glenn Beck («TheBlaze»), Dan Bongino (bongino.com, Bongino Report, Rumble), Tucker Carlson (Fox News) und Tim Pool (timcast.com). Alle sechs sind rechtsextreme Hetzer, die mit ihren Onlineshows Millionen von Menschen erreichen.

Am Jahrestag des Aufstandes lancierten Atkin und ihre Geschäftspartnerin eine Kampagne gegen die sechs Propagandisten, um ihnen die Mittel zu streichen. Die Werbeindustrie hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts unternommen, um die mediale Desinformationsökonomie einzuschränken.

Die Kampagne von Check My Ads änderte dies. «Unser grösster Erfolg war, dass der gewaltbereite Verschwörungstheoretiker Dan Bongino finanziell praktisch vollständig entmachtet wurde. Steve Bannon versucht immer wieder, sich mit neuen Formaten in die Lieferkette einzuschleichen, und wir fangen ihn immer wieder ab», sagt Atkin. Auch Glenn Beck, Tim Pool und der Nationalist Charlie Kirk, der nach eigenen Angaben auf Twitter mit seiner Organisation Turning Point USA achtzig Busse voller Leute zum Kapitol schicken wollte (letztendlich schickte er «nur» sieben Busse), werden aufgrund ihrer Kampagne mittlerweile von zahlreichen Werbeplattformen gemieden. Atkin schätzt, dass sie damit den Propagandisten Werbeeinnahmen in der Höhe von mehreren Millionen US-Dollar entzogen haben. Damit schüren sie viel Wut: Die beiden Frauen erhalten regelmässig Drohungen aus der rechtsextremen Verschwörungsszene.

Der nächste Aufstand

Ob sie auch mit ihrer neuen Kampagne gegen Fox News Erfolg haben werden, ist ungewiss. Das Fox-News-Netzwerk, das dem Medienkonzern Fox Corporation des Unternehmers Rupert Murdoch gehört, macht den grössten Teil seines Umsatzes mit dem Kabelfernsehen, nicht mit seiner Internetseite. «Die Website ist jedoch der Hexenkessel, in dem sie ihre Propaganda zusammenbrauen», sagt Atkin. Fox News benutze die digitalen Daten der Website- und Youtube-Besucher:innen, um herauszufinden, welche Lügen und Täuschungen am besten funktionieren – diese Informationen werden dann im Kabelfernsehen weiterverbreitet. Tatsächlich hat Fox News laut der Watchdog-Gruppe Media Matters for America in den zwei Wochen nach den Präsidentschaftswahlen 2020 das Ergebnis 774-mal angezweifelt und damit die Wut von Trump-Wähler:innen geschürt und den Mob angeheizt. Atkin ist überzeugt: «Wenn wir Fox News nicht blockieren, wird das News-Netzwerk auch den nächsten Aufstand sponsern.»