Leser:innenbriefe
Jenseits von Gut und Böse
«Salman Rushdie: Geister einer anderen Ära?», WOZ Nr. 33/2022
Und da ist es wieder, das linkspubertäre «aber» (diesmal in der Form von «Vergessen ging dagegen …»). Es geht ja nicht, ohne doch noch auf den (für den Autor offenbar nicht vorhandenen) «Kulturkampf» und die NZZ zu verweisen. So weit, so gut, muss ja wohl sein. Wenn aber eine Fatwa, die schon unzählige Opfer gefordert hat, mit dem Tangieren religiöser Gefühle einiger westlicher Exponenten verglichen wird, ist das nicht nur geschmacklos, sondern jenseits von Gut und Böse.
Franz Dodel, Lugnorre
Schädlicher Wettbewerb?
«Lehrkräftemangel: Falsche Ursachen, verkehrte Schlussfolgerungen», WOZ Nr. 32/2022
In seinem Artikel zum Lehrkräftemangel benennt der Autor wichtige Versäumnisse der Bildungspolitik, und er prangert die kapitalistische Logik und den unmöglichen Selektionsauftrag des Schulsystems an. Wie er bin ich als Quereinsteigerin (bzw. mit Lehrdiplom auf einer anderen Stufe) im Kanton Bern als Lehrerin tätig und wünschte mir kreativere Ideen seitens der Politik im Umgang mit uns. So weit sind wir uns einig. Aber dann kommt als einziger konkreter Vorschlag von ihm: mehr Lohn! Auch vom Verband hört man fast nur diese Forderung, schliesslich haben Kantone mit höheren Löhnen weniger Mühe, Lehrpersonen zu finden. Also wird eine Art Lohnwettbewerb nach oben vorgeschlagen.
Das finde ich aus zwei Gründen falsch. Erstens arbeiten Lehrpersonen nicht im Tieflohnsegment, sie haben in der Regel genug Geld, um ein materiell gut gestelltes, selbstbestimmtes Leben zu führen. Was die meisten von uns brauchen, ist nicht mehr Lohn, sondern mehr Zeit, um den Ansprüchen unseres Berufs gerecht zu werden. Insbesondere Klassenlehrer:innen brauchen für ihre grosse Arbeit mehr als eine Lektion (also 1,5 Stunden/Woche), auch nicht zwei (wie der Autor zu Recht sagt), sondern eher vier. Das würde dem effektiven Aufwand besser entsprechen und ihre Position aufwerten. Zudem würde es wohl dazu führen, dass weniger Lehrer:innen nach wenigen Jahren den Beruf wechseln, weil sie völlig erschöpft sind.
Zweitens kann heute in der Schweiz die Forderung nach mehr Lohn (für Menschen, die nicht Working Poor sind) keine zukunftstaugliche linke Forderung mehr sein. Unser Planet wird durch die Wachstumslogik unseres Systems zunehmend für Menschen unbewohnbar, und unser viel zitierter ökologischer Fussabdruck ist umso grösser, je mehr Geld wir haben. Wenn nicht wir Linke andere Ideen für die Bildungspolitik und ein neues Verständnis vom guten Leben entwickeln können, jenseits von der Forderung nach mehr Geld, wer dann? Gerade wenn wir die kapitalistische Logik des Bildungswesens zu Recht heftig kritisieren, sollte unsere Antwort auf die herrschenden Missstände nicht bloss eine Lohnforderung sein.
Judith Gasser, per E-Mail
Der Lehrkräftemangel hängt – wie der Autor richtig schreibt – am wenigsten von der demografischen Entwicklung ab, aber von der neoliberalen Bildungspolitik. Ich stelle oft fest, dass die neoliberalen Instrumente in Artikeln zwar aufgezählt, aber nicht konkretisiert werden. So auch hier. Wer kann sich vorstellen, welche konkreten Auswirkungen die Stärkung der Schulautonomie und der gesteigerte Wettbewerb zwischen den Schulen für Lehrer:innen haben? Welche Mittel werden denn gekürzt? Und wie? (Das vor allem.) Was bedeutet konkret der Abbau der Schulsozialarbeit? Der Wettbewerb unter Schulen spielt meiner Ansicht nach nur im gymnasialen Bereich einigermassen. Über diese Agenda neoliberaler Instrumente würde ich gerne mehr lesen. Wie sie umgesetzt wird und welche Gegenstrategien es gibt – oder auch nicht.
Lydia Elmer, per E-Mail
Nicht überzeugend
«AHV und Verrechnungssteuer: ‹Beide Vorlagen stehen auf der Bestellliste des Kapitals›», WOZ Nr. 33/2022
Jacqueline Badran kann faszinieren und nerven. Wenn sie sich in ihrer Argumentation für einen Weg entschieden hat, ist sie davon nicht abzubringen. Das mussten die WOZ-Interviewer erfahren, die eigentlich etwas von der Position Badrans zu den AHV-Vorlagen in Erfahrung bringen wollten. Badran aber wollte über die zweite Säule sprechen. Und wenn sie trotzdem über die AHV sprach, dann stellte sie die Finanzierungsprobleme infrage. (Dazu im Leitkommentar der WOZ Nr. 32/22: «Dass die AHV zusätzliche Mittel braucht, ist unbestritten.») Derweil bekämpft der Gewerkschaftsbund die Vorlagen in der Art der bürgerlichen Initiativenbekämpfer: mit Angstmachen, bald drohe Pensionierungsalter 67. Wehret den Anfängen. Auftritte von Linken wirken derzeit nicht sehr überzeugend.
Matthias Wiesmann, Frauenfeld