Agrarwirtschaft: Lücken in der Lieferkette

Nr. 35 –

Bis ein Rohstoff die Schweiz erreicht, geht er durch viele Hände. Wie soll da sichergestellt werden, dass er unter fairen Bedingungen produziert wurde? Auf der Spur der Sojabohne aus Argentinien.

Griselda und Jorge Ruiz schreiten über ihr kahles Sojafeld
«Das Gift ist überall»: Griselda und Jorge Ruiz bekommen die Folgen des Pestizideinsatzes auf den benachbarten Feldern hautnah zu spüren.

Zügig schreitet Griselda Ruiz über das Feld. Hier, auf ihrer Farm bei Campo Largo in der Provinz Chaco im Norden Argentiniens, baut sie mit ihrem Mann Jorge Mais an. Zwischen den Pflanzen wächst Unkraut, allerlei Gräser, die das Feld fast grün wirken lassen im Vergleich zu den riesigen Feldern ringsum. Dort wächst neben Mais auch Soja – Unkraut sieht man keins.

Den Grund dafür kennt Ruiz bestens: Pflanzenschutzmittel. «Das Gift ist überall», sagt sie. Wenn der Wind, so wie jetzt, von Norden wehe, trage er die Pestizide zu ihnen herüber. Die sechzigjährige Landwirtin krempelt einen Hemdärmel nach oben und zeigt auf die münzgrossen Pusteln auf ihrem Arm: «Ich bin übersät damit.»

Unter welchen Umständen Soja produziert wird, ist nicht nur ein Problem Argentiniens.

«Leben Sie in einer ländlichen Gegend?», habe der Arzt gefragt, als bei ihrem Mann 2010 Nierenkrebs diagnostiziert wurde. «Pue­blos fumigados», eingenebelte Dörfer – so nennen die Be­woh­ner:in­nen der Gegend ihre Heimatorte. Die Agrarunternehmen, die hier Soja kaufen, sprechen von einem Risikogebiet. Staatlichen Untersuchungen zufolge hat sich die Zahl der Krebserkrankungen in der Provinz Chaco von 1997 bis 2009 verdreifacht, die der Missbildungen von Neugeborenen gar vervierfacht.

Weil Soja aber zu den wichtigsten ­Exportprodukten Argentiniens zählt und nur schon die Schweiz 23 000 Tonnen Soja pro Jahr importiert (um den grössten Teil dann an Schweine, Rinder und Hühner zu verfüttern), ist das Problem von Griselda und Jorge Ruiz aber nicht nur ein argentinisches Problem – sondern auch eines, das diejenigen betrifft, die Soja importieren, weiterverarbeiten oder konsumieren. Und vielleicht bald auch ein rechtliches.

Deutschland geht voran

In vielen Ländern Europas arbeiten Regierungen und Initiativen derzeit an Vorschlägen für Lieferkettengesetze. Unternehmen sollen vermehrt in die Pflicht genommen werden und dafür sorgen, dass am Beginn von Lieferketten keine Menschenrechtsverletzungen geschehen. In Deutschland tritt bereits 2023 ein entsprechendes «Sorgfaltspflichtengesetz» in Kraft. Ein europäisches Lieferkettengesetz soll folgen. In der Schweiz, wo die Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) wegen des verpassten Ständemehrs scheiterte, gelten seit 2022 die Bestimmungen eines Gegenentwurfs – die aber aufgrund des Fehlens einer effektiven Kontrolle und Haftung wirkungslos sind, wie die Rechtsprofessorin Monika Roth in einer Mitteilung der Kovi-Initiative bemängelte.

Und doch wird das deutsche Liefer­kettengesetz auch hiesige Unternehmen beeinflussen: Aus keinem anderen Land importiert die Schweiz so viele Güter wie aus Deutschland. Ab 2023 müssen deutsche Unternehmen ab einer Grösse von 3000 Beschäftigten Risiko­analysen vornehmen und Informationen bei ihren Lieferanten einholen – im Zweifelsfall auch aus Drittländern. Sobald es Hinweise auf einen konkreten Verdacht gibt, müssen sie diesem bis an den Anfang der Lieferkette nachgehen und die Missstände abstellen. Doch wer der Spur des Sojas zu folgen versucht, fragt sich bald, wie das umgesetzt werden könnte.

Wenn zur Sojasaison fast täglich die Sprühflugzeuge über Griselda Ruiz’ Anwesen donnern, springt sie auf, hält drauf und filmt die Maschinen. Mehr als verwackelte Handy­videos hat sie nicht, um zu beweisen, dass die Piloten zu nahe an der Schule oder an Wasserquellen vorbeifliegen – ohne Genehmigung, wie Ruiz behauptet. Schon etwa dreissig Mal habe sie die Pestizideinsätze der Polizei angezeigt. Dokumentiert hat sie die Fälle in einem Notizbuch.

Reaktionen auf ihre Anzeigen blieben jedoch bislang aus: Anders als in vielen Ländern der Welt gibt es in Argentinien kein nationales Gesetz, das den Pestizideinsatz regelt, erklärt Javier Souza von der Fakultät für Agrarwissenschaften der Universität Buenos Aires. Und lokale Verordnungen, die es dazu gibt, hingen immer auch mit den politischen Interessen der Regionen zusammen.

In Chaco, einer der ärmsten Regionen Argentiniens, generierten Anbau und Weiter­verarbeitung von Soja 2021 rund 350 000 Arbeitsplätze. Hier ist der Pestizideinsatz aus der Luft erst ab einer Distanz von eineinhalb Kilometern zu bewohnten Gegenden erlaubt, und An­woh­ner:in­nen müssen mindestens 48 Stunden vor einem Einsatz benachrichtigt werden – kontrolliert werde das aber kaum, so Souza.

Einer der Handelswege der Sojabohne nach Europa beginnt direkt vor Griselda Ruiz’ Haus. Einige der Sojafelder entlang der Strasse, die ins Dorf führt, gehören Héctor Capitanich. Der Landwirt fährt an diesem Mittag in seinem Pick-up zur Aussaat auf sein Feld. Gegen die Sonne trägt der junge Mann eine Sonnenbrille und einen Kapuzenpulli. Und gegen die Pflanzenschutzmittel, die meist kurz vor oder sogar noch während der Ernte auf das Feld gesprüht wurden? Nichts.

Capitanich ist Teil eines regionalen Imperiums: Er führt die Farm, sein Bruder ist der Gouverneur der Provinz Chaco, und einer seiner Cousins vermietet die Sprühmaschinen. 7000 Tonnen Soja werde er wohl in diesem Jahr ernten, schätzt Capitanich. In einer Scheune auf seinem Anwesen lagern Pflanzenschutzmittel. Eines davon ist Stack, hergestellt vom argentinischen Fabrikanten Sigma.

Welche Wirkung es hat, erklärt Souza, als man ihm Fotos der gelagerten Pestizide zeigt. In der EU ist Stack nicht mehr zugelassen, weil es den Wirkstoff Imidacloprid enthält, ein Nervengift, das mutmasslich massenhaft Bienen tötet und im Verdacht steht, den mensch­lichen Hormonhaushalt zu verändern. Laut der Schweizer NGO Public Eye stellt kein Konzern so viel Pflanzenschutzmittel mit diesen Wirkstoffen her wie Syngenta mit Sitz in Basel – obwohl diese auch in der Schweiz verboten sind. Ähnliches gilt für weitere Mittel in Capitanichs Scheune, die Souza als «hoch­gefährliche Pestizide» identifiziert.

Syngenta: Grösste Pestizidlieferantin

Ist es Unternehmen auf der anderen Seite des Atlantiks vorzuwerfen, wenn ihre südamerikanischen Lieferanten Substanzen verwenden, die in ihren Ländern erlaubt sind, selbst wenn das nach europäischen Mass­stäben unverständlich ist? Viele Fragen seien zwar noch ungeklärt, sagt der Rechtsanwalt Max Jürgens, der gemeinsam mit Kol­leg:in­nen an einem Praxishandbuch für das deutsche Lieferkettengesetz arbeitet. Auch wenn ein Lieferkettengesetz in anderen Ländern nicht direkt neue Standards setzen könne, so Jürgens: «Mittelbar will es das natürlich schon – indem Unternehmen sich vertraglich selbst verpflichten müssen, nur noch Soja zu kaufen, bei dessen Anbau keine Pestizide verwendet werden.»

In Chaco, einer kargen, heissen Gegend, sei es ohne massiven Einsatz von Pflanzenschutzmitteln gar nicht möglich, Soja anzubauen, sagt der Landwirt Capitanich. Dass die Pestizide Übelkeit, Schwindel, Pusteln und vielleicht auch Krebs verursachen könnten, streitet er ab. Die Hersteller würden schon dafür sorgen, dass ihre Mittel umweltfreundlich seien. Auf die Frage, wohin sein Soja exportiert werde, zuckt er mit den Schultern: «Ich habe den Vorteil der Ungewissheit. Ich weiss es nicht.» Ihn interessiere nur der beste Preis.

Für diesen wiederum ist Ariel Ojeda als Mittelsmann zuständig. Er übernimmt das Geschäft, sobald das Soja den Hof von Capitanich verlässt. Ojeda selbst kommt aus einer strukturschwachen Region. Heute, so erzählt er, verhandle er mit grossen Exportunternehmen. 2021 etwa habe er das Soja von Capitanich an vier Agrarkonzerne verkauft: Cargill, Bunge, Viterra und Cofco. Was die mit dem Soja machen? Das wisse er nicht.

Die Agrarbörse in Rosario befindet sich in einem hellen Steingebäude in der Innenstadt. Männer in Anzügen schieben sich durch ein Drehkreuz. In einem klimatisierten Raum flimmern auf Bildschirmen die Kurven der Rohstoffpreise. Fast zwei Millionen Tonnen Soja wurden hier 2021 gehandelt. Das Soja, das hier ankommt, bekomme einen Barcode, erklärt die Wirtschaftsanalystin Desiré Sigaudo – aber nur für eine Qualitätsuntersuchung. Eine lückenlose Rückverfolgung sei gar nicht möglich. Dafür gebe es einfach viel zu viel davon, täglich kämen bis zu 5000 volle Lastwagen. Schon bei der Zwischenlagerung werde die Ware von verschiedenen Produzenten vermischt.

Nördlich von Rosario reihen sich die Häfen der Agrarunternehmen aneinander. Camionkolonnen schieben sich auf staubigen Stras­sen voran. Eine der Abfertigungsanlagen gehört Viterra, einem der Konzerne, an den Ariel Ojeda im vergangenen Jahr die Sojabohnen verkaufte. Auf Anfrage sagt ein Viterra-Sprecher, man bemühe sich nachzuvollziehen, woher das Soja stamme – wenn nicht bis zur Farm, dann zumindest bis in eine Region. Auf weitere Nachfragen aber möchte er «aufgrund von Datenschutzbestimmungen» nicht ­antworten.

Im November 2021 dockte vor der Anlage von Viterra das Containerschiff Pax an und sog über 27 000 Tonnen Soja in sein Inneres. Einen Monat später erreichte das Schiff einen Quai am Hamburger Hafen, der zur Habema Futtermittel GmbH & Co. KG gehört, einer Firma, die nach eigenen Angaben jährlich 400 000 Tonnen Tierfutter herstellt. Auf Anfrage möchte sich das Unternehmen nicht äussern. Einer der Abnehmer von Habema ist ein deutsches Handelsunternehmen, das nach ­eigenen Angaben Futtermittel an einzelne Höfe und an Grosskunden wie Wiesenhof liefert, einen der grössten Geflügelproduzenten Europas. Unter der Zusicherung, namentlich nicht genannt zu werden, ist man beim norddeutschen Tierfutterhersteller zu einem Gespräch bereit. Natürlich befasse man sich mit dem Lieferkettengesetz, erklärt der Vorstandsvorsitzende. Er würde ja auch gern wissen, woher seine Ware genau komme – in der Realität sei das aber nur schwer umzusetzen.

Keller-Sutter blockiert

Eine lückenlose Prüfung der gesamten Lieferkette sei nicht nur bürokratisch, sondern gar nicht umsetzbar: So sagte es 2020 auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter. Es gebe daher keine Pläne, ein neues Lieferkettengesetz auszuarbeiten, das über den Gegenvorschlag der Kovi hinausgehe, äusserte der Bundesrat Ende 2020 auf Anfrage der Grünen. Man wolle «gleich lange Spiesse» für alle Länder, so Keller-Sutter.

Dabei geht das vorgeschlagene EU-Gesetz schon jetzt um einiges weiter als die Bestimmungen des hierzulande geltenden Gegenvorschlags zur Kovi. Die Regeln sollen gar noch strenger ausfallen als in Deutschland und bereits für Unternehmen ab 500 Beschäftigten gelten. Demnach stünden die Mitgliedstaaten in der Verantwortung, Aufsichtsbehörden einzurichten, die Bussgelder verhängen könnten. Doch selbst dann wäre noch immer ungeklärt, wie bewiesen werden könnte, dass ein Unternehmen aus Europa für Schäden verantwortlich ist, die Tausende Kilometer entfernt entstanden sind. Griselda Ruiz aus Campo Largo könnte ja nicht einmal mit Gewissheit sagen, bei wem das Soja aus ihrer Nachbarschaft gelandet ist. Was sie sieht und am eigenen Körper spürt, das sind die Folgen des Anbaus, die sie und ihren Mann Jorge gezeichnet haben.

Die Recherche wurde unterstützt von Netzwerk Recherche e. V., Olin gGmbH und VG Wort.