Autoritarismus: Von wegen Sonderfall
SVP-Vertreter:innen zeigen oft Sympathien für antidemokratische Regimes. Kein Wunder: Die Partei, die Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung predigt, ist durch und durch autoritär.
Einmal pro Woche spricht Christoph Blocher, Multimilliardär und geistiges Oberhaupt der modernen SVP, zur Leser:innenschaft seines Deutschschweizer Gratiszeitungsimperiums. «Der Verleger hat das Wort» heisst die kleine Rubrik, die in manchen der 28 Titel von Swiss Regiomedia abgedruckt wird.
Mitte August äusserte sich der Altbundesrat darin nachdenklich zum Krieg in der Ukraine. «Dass viele junge Soldaten sterben, ist die Wahrheit. Auf beiden Seiten», so Blocher, um dann eine verstörende Einordnung folgen zu lassen: Man müsse «angesichts der gefallenen russischen Teenager-Soldaten auch die Frage stellen: Warum sind sie tot? Irgendjemand muss sie ja getötet haben.» Und dann die Schlussfolgerung: Ukrainische Soldat:innen töten junge Russen mit Waffen aus den USA und der EU – «sogar mit Unterstützung der neutralen Schweiz, welche die schweizerische Neutralität brach und damit Kriegspartei ist». Die kurze Ansprache ist selbst für den Brachialrhetoriker verblüffend einseitig: Sein Mitgefühl gilt den russischen Soldaten, aber die Schuld für ihren Tod verortet er nicht zuerst bei jenen, die sie in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg geschickt haben. Sondern bei denen, die sich dagegen zur Wehr setzen.
Populistisches Getöse
Mit solchen Voten will der 81-Jährige derzeit für die «Neutralitätsinitiative» weibeln, mit der er sich jüngst wieder ins Politgetümmel gestürzt hat. Diese fordert, dass in der schweizerischen Verfassung festgeschrieben wird, dass das Land «immerwährend bewaffnet neutral» sei und künftig «keine Sanktionen gegen kriegsführende Staaten» mehr verhänge. Blocher folgt offensichtlich dem politischen Kalkül, eine globale Krise wie die aktuelle nicht ungenutzt vorbeiziehen zu lassen: steigende Energiepreise, explodierende Heizkosten, fragile Lieferketten und aussenpolitische Eskalationen liefern der SVP, die in den letzten Jahren händeringend nach neuen spalterischen Diskursen suchte, hochwillkommenes Futter für populistisches Getöse. «Die Bevölkerung will die schweizerische Neutralität – aber die Politiker missachten sie», sagte Blocher gegenüber den «Schaffhauser Nachrichten» vor dem 1. August. Und sprach von einer «Führungskrise» und «Verantwortungslosigkeit», die «unschweizerisch» sei. So weit, so vorhersehbar.
Wirtschaftliche Interessen sind auch im Spiel – etwa bei Konzernchefin Martullo-Blocher.
Es wäre aber zu einfach, Blochers Vorpreschen als opportunistische Reaktion auf die aufgeheizte geopolitische Stimmung abzutun – und seine bizarren Aussagen zum Krieg in der Ukraine als ungelenken Ausrutscher. Insbesondere wenn man sie in der Reihe von Äusserungen betrachtet, die SVP-Vertreter:innen vor und seit der russischen Invasion vor einem halben Jahr gemacht haben.
Allen voran Nationalrat Andreas Glarner, der in einem Artikel in der «Schweizerzeit» – der rechtsnationalen Zeitung des einstigen SVP-Nationalrats Ulrich Schlüer – schrieb, die Ukraine solle dringend Zugeständnisse an Russland machen, etwa die Krim und den Donbas abtreten. Ansonsten wären «die EU und die USA ganz klar schuld an jedem weiteren Opfer dieses Krieges». Den ukrainischen Machtwechsel von 2014 bezeichnete Glarner als «Putsch der US-Amerikaner». Oder natürlich Nationalrat Roger Köppel, der just am Tag des Überfalls am 24. Februar im Editorial seiner «Weltwoche» schrieb, die «russische Wiederaneignung der Krim» sei «eine direkte Folge des westlichen Ausgreifens nach Kiew» gewesen, und Wladimir Putin sei eher «ein eiskalt kalkulierender Politiker, der die nationalen Interessen seines Landes zu verteidigen versucht» – und weniger der «Schwerverbrecher», als den «unsere Medien» ihn hinstellten.
Intern riefen die schrillen Parteigrössen bald Unmut hervor. Dem ungewollten Image als Partei der Putin-Versteher:innen gegensteuernd, wird der Krieg mittlerweile in einer leicht subtileren Tonalität verhandelt. Die öffentliche SVP-Haltung pendelte sich bei einem Standpunkt der Beschwichtigung ein: Es brauche jetzt Verhandlungen, um eine Friedenslösung zu erreichen, und deshalb ein Entgegenkommen gegenüber Putin – natürlich inklusive Aufhebung der Sanktionen. Dass dabei nicht zuletzt wirtschaftliche Eigeninteressen eine gewichtige Rolle spielen, zeigt etwa das Beispiel von Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher, Chefin des hauseigenen Ems-Chemiekonzerns mit Produktionsstätten in Russland, die betriebsintern den Gebrauch des Wortes «Krieg» untersagt hat.
Diese Parteilinie widerspiegelte sich auch in einer Aussage von SVP-Bundesrat Ueli Maurer, der Russlands Krieg gegen die Ukraine Mitte August an einem Parteianlass als «Stellvertreterkrieg» zwischen Russland und der Nato bezeichnete, der «auf dem Buckel der Ukraine ausgetragen» werde. Damit widersprach er – wie schon so oft – der Haltung des Gesamtbundesrats, der Russlands Invasion offiziell als «massiven Verstoss gegen das Völkerrecht» bezeichnet.
Vermeintliche Widersprüche
Es ist nicht nur Putins autokratisches Regime, das innerhalb der SVP offensichtlich auf Sympathien oder zumindest ein diffuses Verständnis stösst. Sei es die totalitäre Herrschaft der Kommunistischen Partei in China, die Diktatur Alexander Lukaschenkos in Belarus oder auch die autokratische Regierung Viktor Orbans in Ungarn: Im Führungspersonal der SVP wurde in der Vergangenheit immer wieder grosser Unwille deutlich, antidemokratische Systeme zu kritisieren. Eigentlich erstaunlich für eine Partei, aus deren Reihen gerne vor einer «Corona-», «Klima-» oder ganz einfach vor einer «EU-Diktatur» gewarnt wird. Eine Partei, die sich obsessiv an einer angeblichen «Cancel Culture» abarbeitet, zeigt sich gleichzeitig fasziniert von Autokraten, die Oppositionelle wegsperren lassen und sich der Pressefreiheit längst entledigt haben. Und während die SVP die direkte Demokratie der Schweiz gerne als heilsversprechendes Exportmodell anpreist, zeigen sich ihre Exponent:innen bewundernd gegenüber der Tatkraft entdemokratisierter Weltmächte. Diese Partei, die über die grössten Abstimmungs- und Wahlkampfbudgets verfügt, manche der reichsten Politiker:innen in ihren Reihen und gewichtige Verbände im Rücken hat sowie zwei Siebtel der Landesregierung stellt – diese Partei also kommt noch immer damit durch, «das Volk» gegen «die Eliten» aufzuwiegeln.
Es hilft allerdings nicht, nur auf diese Widersprüche hinzuweisen. Viel wichtiger ist es, den Blickwinkel zu beachten, aus dem diese gar nicht als Widersprüche erscheinen. Besonders aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die Auftritte Roger Köppels, der gerne im Selbstverständnis des neugierigen Journalisten argumentiert: als Denker ohne Scheuklappen, der ganz einfach die Welt verstehen will, ohne dabei dem politischen und medialen Mainstream auf den Leim zu gehen. In seiner «Weltwoche» hat er neben Rechtsextremen wie dem französischen Präsidentschaftskandidaten Éric Zemmour oder dem AfD-Politiker Björn Höcke auch schon dem Naziwirtschaftsminister und Kriegsverbrecher Hermann Göring* gehuldigt. Schon wiederholt war Köppel auch auf RT DE zu sehen, dem Propagandafernsehsender des Kreml in Deutschland. Zuletzt in diesem Januar, knapp einen Monat vor der russischen Invasion, als die ganze Welt besorgt auf die Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze blickte. «Man darf es fast nicht mehr sagen», liess Köppel da verlauten, «aber: Es gibt viele Ukrainer, die lieber zu Russland gehören würden.»
Ein halbes Jahr zuvor, im Juni 2021, war Köppel auf RT DE in der Sendung des Publizisten Thomas Fasbender zu Gast, um in einer halbstündigen «Tour d’Horizon» seine geopolitischen Analysen auszubreiten. Er habe «grossen Respekt» vor der Leistung Putins, den er einen «Stabilokraten» nannte, weil er Russland seit dem Ende der neunziger Jahre vor dem Auseinanderbrechen bewahrt habe. Wortreich erklärte Köppel, dass Europa durch Putin endlich wieder gezwungen sei, sich der «Realpolitik» zuzuwenden: weg von «Moralbetrunkenheit», «Gutmenschentum» und vom «aggressiven Konsens», den die «medialen und politischen Machteliten» etabliert hätten. Und je länger er redete, desto deutlicher wurde seine Sehnsucht nach einer Welt, in der starkes Führungspersonal das Schicksal der Staaten in die Hand nimmt. In frappanter Übereinstimmung mit Putin beschreibt er Europa als verweichlicht und schwach: «Das Denken in Interessen ist durch die Regenbogenflagge ersetzt worden», so sein Fazit. Wohlwissend, dass in Russland schon viele Menschen von Sicherheitskräften verprügelt wurden, weil sie ihre demokratischen Grundrechte wahrnahmen, indem sie Regenbogenflaggen durch die Strassen trugen.
«Das Volk» ist Definitionssache
«Demokratie heisst, dass die Bürgerinnen und Bürger entscheiden, was Sache ist», sagte Köppel in derselben Sendung im russischen Propagandafernsehen, und er beobachte heute «einen Autoritarismus, der sich als Liberalismus ausgibt». Womit er benannte, was die SVP-Erzählung von direkter Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung kompatibel macht mit der Bewunderung für autoritäre Staatsmacht: Der Wille des «Volkes» kann gemäss Köppel auch darin bestehen, sich hinter einem starken Leader zu vereinen.
Und indem «Demokratie» zur fast schon folkloristischen Leerformel erklärt wird, lässt sie sich auch losgelöst von verbrieften Grundrechten etwa für marginalisierte Bevölkerungsgruppen auslegen. Wer «das Volk» ist, ist schliesslich eine Frage der Definition – und gemäss SVP ist es offenkundig die Mehrheits- und Dominanzgesellschaft, die vor niemandem ihre Privilegien zu rechtfertigen hat. Woraus sich aus emanzipatorischen Bewegungen – von Köppel versinnbildlicht in der Regenbogenfahne – denn auch eine vermeintliche «Elite» konstruieren lässt, obwohl sie weit weniger mächtig sind als der SVP-Führungszirkel.
Christoph Blocher hat in seinem langen Leben schon oft und relativ unverblümt seine Faszination für antidemokratische Systeme kundgetan, sei es für das rassistische Apartheidregime in Südafrika, das totalitäre China, ja selbst für das kommunistische Nordkorea. Im Nationalratswahlkampf 2007 liess er seine Partei in einer beispiellosen Kampagne mit seinem Konterfei werben. «Blocher stärken! SVP wählen!», hiess es damals wochenlang auf den grössten Plakatflächen des Landes. Aber bis heute haben weder dieser Personenkult noch das autoritäre Denken der wortführenden SVP-Exponent:innen etwas daran geändert, dass die Partei in der Schweiz verharmlosend als urdemokratische Kraft dargestellt und im politischen Diskurs eingebunden wird. Sie wird dies weiterhin zu nutzen wissen, gerade in den turbulenten Zeiten, die sich anbahnen.
* Korrigenda vom 1. September 2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion stand fälschlicherweise, Roger Köppel habe in der «Weltwoche» dem Nazipropagandisten Joseph Göbbels gehuldigt. Das ist falsch, im entsprechenden Artikel huldigte Köppel dem Naziwirtschaftsminister und Kriegsverbrecher Hermann Göring. Wir bitten für diesen Fehler um Entschuldigung.