Lampedusa: Der grosse Sturm um eine kleine Insel

Nr. 35 –

Lampedusa findet sich mitten im Zentrum des italienischen Wahlkampfs wieder. Zum Missfallen vieler Bewohner:innen.

Lega-Chef Matteo Salvini ret auf seiner Propagandatour auf Lampedusa
Lega-Chef Matteo Salvini redet auf seiner Propagandatour auf Lampedusa. Foto: Valeria Ferraro, Keystone

«In Tunesien kann man nicht leben – das kannst du mir glauben», sagt der 26-jährig­e Skander Dschebali. Der Tunesier hat vor dem Aufnahmezentrum in Lampedusa unter eine­m Baum etwas Schutz vor der schwülen Sommerhitze gefunden. «Es gibt keine Arbeit, du verhungerst da!» Die kleine sizilianische Insel, die näher an Afrika liegt als an Italien, ist für Tausende Geflüchtete das Tor zu Europa. Sie kommen auf kleinen Booten oder seeuntüchtigen Fischkuttern von Libyen oder Tunesien her über das Meer. Ein Zaun hindert die Migrant:innen, das Lager zu verlassen. Am Eingang stehen Sol­da­t:in­nen Wache.

Dschebali ist zusammen mit fünf Freund:innen an Bord eines fünf Meter langen Bootes aus Tunesien gekommen. «Ich habe jahrelang auf dem Markt in Tunis geschuftet, um die Überfahrt bezahlen zu können», erzählt er. Trotz der ungastlichen Situation im Lager scheint er zufrieden: «Ich bin in Europa!», sagt er.

Salvinis Bootsfahrt

Das Erstaufnahmezentrum ist jetzt in den Sommermonaten, in denen aufgrund des ruhigen Seegangs viele Flüchtende auf Lampedusa ankommen, wie jedes Jahr überfüllt. Doch heuer sorgt dies für grösseres Aufsehen als sonst, denn die Einwanderung ist das zentrale Wahlkampfthema der rechten Parteien, die bei den vorgezogenen Wahlen in Italien Ende September die grössten Chancen auf ­einen Sieg haben. Nötig wurde der Urnengang, weil die Koalitionsregierung unter Exbanker Mario Draghi zerbrochen war.

Der Parteivorsitzende der rechtspopulistischen Lega, Matteo Salvini, lancierte auf der Insel am 4. August gar seine Wahlkampagne. 2018 hatte er als Innenminister mit seiner «Politik der geschlossenen Häfen» zivile­n Rettungsschiffen, die Mi­grant:in­nen im Mittelmeer retteten, das Einlaufen in italienische Häfen verwehrt. Nun unternahm er auf Lampedusa eine Bootsfahrt und versprach den Ita­lie­ner:in­nen dabei einen radikalen Wandel der Einwanderungspolitik.

«Italien ist nicht das Flüchtlingslager Europas», verkündete er. Die aktuelle Situa­tion sei beschämend, bald würden die Ita­lie­ner:in­nen jedoch an die Urnen strömen, um ein neues Kapitel einzuläuten. Der Lega-Frontmann, für den die «Eindämmung der ungeregelten Zuwanderung» schon immer zuoberst auf der Agenda stand, hat sich auf der Insel zudem – für den Fall, dass die Rechte an die Macht kommt – schon mal als möglicher künftiger Innenminister ins Gespräch gebracht.

Laut Umfragen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es genau dazu kommt. Die besten Chancen auf eine Regierungsmehrheit hat derzeit die Koalition aus den rechtsextremen Fratelli d’Italia, der Lega und der Forza Italia – der Partei des Expremiers und Medienzars Silvio Berlusconi. Premierministerin würde in diesem Fall Giorgia Meloni, die Vorsitzende der Fratelli d’Italia, die 2019 meinte, dass man die Schiffe der Menschenrechtsorganisationen, die Migrant:innen retteten, «versenken» solle.

Meloni fordert wie auch andere ihrer Partei schon lange eine «Seeblockade» unter Einsatz von Kriegsschiffen, die die Boote der Flüchtenden am Weiterkommen hindern sollen. Eine solche Blockade ist zwar nicht umsetzbar, da sie gegen Völkerrecht verstossen würde, wie kürzlich unter anderem der ehemalige EU-Kommissar Dimitris Avramopoulos festhielt. Doch das Versprechen, die Flüchtlingsschiffe zu stoppen, bleibt trotz allem das grosse Thema von Melonis Partei, die voraussichtlich am meisten Stimmen bei den Wahlen holen wird.

Die Lega im Rathaus

So rückt Lampedusa einen Monat vor den Wahlen erneut ins politische Rampenlicht. Im Aufnahmelager der Ortschaft Imbriacola, im Landesinnern der Insel, liegen Hunderte von Asylsuchenden auf Schaumstoffmatratzen auf dem Boden. In dem für 380 Menschen gebauten Lager, das in diesem Sommer zeitweise mehr als tausend Geflüchtete beherbergte, ist nicht genug Platz für sie. Während täglich Tourist:innen aus ganz Europa mit dem Flugzeug auf Lampedusa landen und abfliegen, warten die Asylsuchenden tagelang darauf, mit Linienschiffen aufs Festland gebracht zu werden – darunter viele unbegleitete Minderjährige und Frauen.

«Im Juli sind innerhalb weniger Tage mehrere Schiffe angekommen, das Lager war überfüllt», erzählt Giovanni D’Ambrosio von Mediterranean Hope, eine von der evangelischen Kirche initiierte Organisation für Geflüchtete. Zuletzt sei im August ein Fischkutter mit 263 Menschen aus dem libyschen Zuwara angekommen; dabei seien auch viele ältere Menschen sowie unbegleitete Minderjährige aus Ägypten gewesen. Oft erreichen die Boote von alleine einen Strand oder den Hafen – wenn nicht, kommt die Küstenwache ihnen zur Hilfe und bringt sie an Land. Diesen August seien etwa 3100 Menschen angekommen, sagt D’Ambrosio – etwa so viele wie im gleichen Monat 2021. Insgesamt seien dieses Jahr 23 000 Mi­grant:in­nen auf Lampedusa gelandet.

Giorgia Meloni fordert schon lange eine «Seeblockade» unter Einsatz von Kriegsschiffen.

Lampedusa ist seit langem ein wichtiger Ort für die Ankunft von Migrant:innen. Nach der Flucht des tunesischen Präsidenten Ben Ali während der Jasmin-Revolution 2011 trafen Tausende von Tu­ne­sier:in­nen auf der Insel ein. Ihre Situation war nicht einfach, viele schlugen ihr Lager in der Nähe des Flughafens auf. Doch sie konnten auf die Unterstützung der Insel­bewoh­ner:in­nen zählen, die sie mit Essen versorgten.

Seitdem sind jedes Jahr Tausende von Menschen angekommen. Als Anfang Oktober 2013 ein Fischkutter aus Libyen nur wenige Meilen vor einem Strand von Lampedusa sank und dabei 368 Menschen aus Eritrea starben, initiierte Italiens Regierung eine Rettungsmission: die Operation Mare Nostrum – die ein Jahr später von der europäischen Mission Triton abgelöst wurde. In dieser Zeit fingen italienische Behörden und zivile See­not­ret­ter:in­nen die Geflüchteten in der Strasse von Sizilien und den internationalen Gewässern vor Libyen auf, um sie in italienische Häfen zu eskortieren. Lampedusa verlor damit auf den Migrationsrouten an Bedeutung. Als die italienische Regierung dieses Rettungssystem 2017 einstellte, änderte sich dies jedoch. Europas Grenze verläuft wieder entlang von Lampedusas Stränden.

Die Einstellung der Insulaner:in­nen gegenüber den Geflüchteten hat sich gewandelt. Bei den Europawahlen 2019 stimmten 46 Prozent der Wäh­ler:in­nen für die Lega. Dieses Jahr wurde mit Filippo Mannino ein Bürgermeister gewählt, der den Lega-Mann Attilio Lucia zu seinem Vize machte. Lucia war mit Facebook-Videos bekannt geworden, in denen er über Mi­grant:in­nen schimpfte. Er hatte sich 2020 gar ins Meer geworfen, um so zu verhindern, dass Flüchtende von Bord eines Schiffs der Küstenwache an Land gehen. Die Geflüchteten seien speziell in Zeiten von Corona eine Gefahr, verkündete er laut, und schwenkte eine Fahne mit der Aufschrift «Italiener ­zuerst!».

«Wir sprechen von Menschen»

Es war auch Lucia, der Salvini Anfang August nach Lampedusa einlud. Die Insel erlebe «eine stille Invasion», sagte Lucia und zeigte sich besorgt um das Geschäft mit dem Tourismus. «Nach 35 Jahren reicht es uns! Wir haben dieses Geschäft mit Menschenfleisch und die Rhetorik gewisser linker Gutbürger satt.» Dabei wurden die Zäune der Lager vor zwei Jahren so verstärkt, dass die Mi­grant:in­nen nicht mehr rauskönnen. Zudem liegt das Zentrum versteckt an einem abgelegenen Ort, weit weg von den Stränden und anderen Orten, an denen sich Tou­rist:in­nen aufhalten. Für sie sind die Geflüchteten unsichtbar.

Der ehemalige Bürgermeister der Insel, Salvatore Martello, sagt, das sei Propaganda: «Seit zwei Monaten sitzt ein Vertreter der Lega im Gemeinderat der Insel, ein richtiger Vor­zeige-Salvinianer, der in alle vier Himmelsrichtungen rief, dass die Lega das alles stoppen werde.» Lucia sei sogar so weit gegangen, die Überführung von Mi­grant:in­nen in das Aufnahmelager zu blockieren, erinnert Martello. «Aber seit er Mitglied der Gemeindeverwaltung ist, bleibt er plötzlich stumm.»

Seit 2014 sind laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 20 000 Menschen bei der Überquerung des Mittelmeers gestorben – oder gelten seither als vermisst. Hunderte von Leichen, die aus dem Meer geborgen wurden, konnten nicht identifiziert werden; einige von ihnen wurden auf dem Friedhof Lampedusas in Cala Pisana bestattet. Insulaner:innen pflegen die Gräber der Namenlosen.

Für den ehemaligen Bürgermeister Martello, der eines der grössten Hotels der Insel betreibt, ist das Thema der Einwanderung zu heikel und zu komplex, um es für den Wahlkampf zu missbrauchen. «Wir sprechen hier von Menschen, nicht von Zahlen: Menschen wie wir, deren Rechte gewahrt bleiben müsse­n.»