Friedrich Nietzsche: Trost in der Wildnis der Texte

Nr. 36 –

In seinem neuen Buch erzählt Philipp Felsch davon, wie zwei italienische Antifaschisten nach dem Urtext des Lieblingsphilosophen der Nazis jagten und wie ihnen die Postmoderne in die Quere kam.

«Was ist ein Autor?», so heisst der später als Essay bekannt gewordene Vortrag, den Michel Foucault 1969 vor der Société française de philosophie hielt. Darin: etwas, das man heute einen akademischen Diss nennen könnte. Der französische Historiker und Philosoph möchte zeigen, dass es keine «Theorie des Werks» gebe, und wählt dafür das Beispiel Friedrich Nietzsche: Wenn man daran ginge, dessen Texte zu veröffentlichen, wo sollte man halt­machen? «Man soll alles veröffentlichen, gewiss, aber was heisst dieses ‹alles›?», fragte Foucault. Und «wenn man in einem Notizbuch voller Aphorismen einen bibliografischen Nachweis, einen Hinweis auf eine Verabredung, eine Adresse oder einen Wäschereizettel findet: Werk oder nicht Werk? Wie lässt sich aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterlässt, ein Werk definieren?» Denen, die versuchten, Nietzsches Nachlass als Gesamtwerk herauszugeben, bescheinigte Foucault Naivität und prognostizierte ihr Scheitern.

Was wie ein willkürlich gewähltes, fiktives Beispiel erscheint, hat eine längere Vor­geschichte und zwei reale Adressaten. Nämlich jene Männer, die – wie Michel Foucault weiss – seit Beginn der sechziger Jahre daran arbeiten, die «Millionen Spuren», die Friedrich Nietzsche bis zu seinem Tod im Jahr 1900 hinterlassen hat, zu sichten und zu edieren: die Italiener Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Die beiden Antifaschisten wollen Nietzsche retten und rehabilitieren, nachdem dessen Schwester und Nachlassverwalterin sein Werk verfälscht und den Nazis überlassen hatte. Ihr Ziel ist es, den «Urtext» aus dem Nietzsche-Archiv in Weimar, der damaligen DDR also, zu bergen und damit den Philosophen gegen weitere Fehlinterpretation und politische Vereinnahmung zu impfe­n.

Duell in Royaumont

Ihre Geschichte, die Geschichte ihres Lebensprojekts, der Kritischen Nietzsche-Gesamtausgabe, erzählt der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch in seinem neuen Buch «Wie Nietzsche aus der Kälte kam». Foucault nimmt darin die Rolle des zwar genialen, aber wenig sympathischen Gegenspielers ein. Mit dem ersten Zusammentreffen der Italiener und des Franzosen beginnt das Buch: Es ist die deutsch-französische Nietzsche-Tagung 1964 in Royaumont, wo Colli und Montinari als Aussenseiter teilnehmen; sie präsentieren ihr Projekt und die editionsphilologischen Prinzipien, nach denen sie vorgehen, halten sich ansonsten aber aus allen Interpretations­debatten zwischen französischen und deutschen Nietzscheanern heraus.

Foucault wiederum nimmt in seinem Tagungsvortrag «Nietzsche, Freud, Marx» die Möglichkeiten der Interpretation an sich in den Blick – und beschreibt die Herme­neutik als seit dem 19. Jahrhundert fragwürdiges, «grenzenloses» und damit prekäres Unterfangen. Er stellt grundsätzlich infrage, ob das, was die beiden Italiener durch ihre Herausgabe von Nietzsche zu leisten glauben, überhaupt machbar ist: dass dieser aus einem authentischen Text für sich sprechen und man ihn dann original interpretieren werde.

Von da an entfaltet sich ein faszinierendes Zusammenspiel, das Felsch – der bereits in «Der lange Sommer der Theorie» ziemlich mitreissend eine wahre Geschichte von Texten, Autoren und Rezipient:innen zwischen Marxismus und Poststrukturalismus erzählt hat – in seinem Buch detailliert ausbreitet. Foucault und die französischen Poststrukturalisten haben bedeutenden Anteil an der Nietzsche-Renaissance in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ebenso die Italiener mit ihrer Edition. Mehr noch: Sie bedingen einander, wie Felsch anhand des eingangs beschriebenen Angriffs Foucaults auf die Ambitionen der beiden zeigt.

Deren Vorhaben beschreibt Foucault als vergeblich – vor allem bei Montinari, der seit 1961 in Weimar an dem in der DDR geflissentlich ignorierten «Chaos von Nietzsches Gekritzel» arbeitet und dort versucht, «die Stimme des Autors zu finden und die Grenzen eines Werks zu definieren». Dagegen macht Foucault auf die «Millionen von Spuren» aufmerksam, die Nietzsche hinterlassen hat. Von diesen weiss er indes nur, weil er genaue Kenntnis von der Editionsarbeit der Italiener hat – nicht nur aus Royaumont: Gemeinsam mit dem Philosophen Gilles Deleuze hatte Foucault kurzzeitig selbst als Mitherausgeber der französischen Übersetzung der Kritischen Gesamtausgabe fungiert, sich davon jedoch 1968 wieder zurückgezogen.

Akribisches Wühlen

Und noch etwas verbindet die Männer: Philipp Felsch beschreibt den Poststrukturalismus, seine Zerstörung der etablierten Vorstellungen von Werk und Hermeneutik, ebenso wie die Rückkehr zum Handwerk der Editionsphilologie als zwei entgegengesetzte Reaktionen einer Generation auf die Kränkungserfahrung, nicht selbst Geschichte gemacht zu haben. Mazzino Montinari tauscht nach Jahren als Funktionär der Kommunistischen Partei «weltanschauliche Überzeugungen gegen die kleine Münze der Buchstabentreue ein» und will nur noch der Wahrheit verpflichteter Textarbeiter sein: kein Philosoph, sondern Philologe.

Die Poststrukturalisten dagegen wollen gar nicht mehr an Wahrheit glauben müssen: «Nach dem Verblassen der grossen Utopie», schreibt Felsch, «verkörpert der subversive, wildernde Leser die letzte Schwundstufe des revolutionären Subjekts.»

Die einen suchen Trost bei Nietzsche, indem sie sich jahrelang akribisch durch seine Handschriften wühlen, die anderen meinen, man könne seinem Denken nur Anerkennung bezeugen, indem man ihn – wie Foucault 1975 in einem Interview sagt – «benutzt, verzerrt, misshandelt und zum Schreien bringt». Das ist das Gegenteil dessen, was Colli und Montinari im Sinn hatten. Sie müssen feststellen, dass sich Textwilderei nicht editorisch kon­trollieren lässt.

Vordenker, aber für wen?

Friedrich Nietzsche den Faschisten zu ent­reissen, hat allerdings funktioniert, wenn auch nicht so, wie sie es wollten: Ende der siebziger Jahre ist er nicht nur zum Vordenker der Postmoderne metamorphosiert, sondern auch Stichwortgeber einer neuen «nihilistische­n» Linken auf den Strassen. Ob Nietzsche tatsächlic­h nur durch die Verzerrungen seiner Schwester zum Philosophen der Nazis wurde oder schlicht und einfach ein «Meister­denker der Konterrevolution» war, darüber wird auch nach dem Tod Giorgio Collis 1979 und Mazzino Montinaris im Jahr 1986 weiter gestritten; Felsch zeigt das etwa mit Verweis auf neue Editionsprojekte mit sprechenden Namen wie «Ausgabe letzter Hand» und «Werke letzter Hand» sowie auf Domenico Losurdos Biografie «Nietzsche, der aristokratische Rebell» (2009).

Welche Interpretation dabei seiner Ansicht nach gültig ist, verschweigt Philipp Felsch. Sowieso: Um Nietzsches Denken geht es hier nur am Rand. Das mag zunächst erstaunlich erscheinen, aber im Grunde ist es konsequent, denn die Frage, um die das Buch sich dreht, ist eine andere und weist über die Causa Nietzsche hinaus: Kann die Suche nach einem korrekt interpretierbaren Urtext überhaupt jemals erfolgreich sein? Beantworten kann Felsch diese Frage nicht, doch die Suche hat er – obgleich es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt – ausserordentlich spannend aufgeschrieben: als intellektuellen Abenteuerroman wie auch als berührende Geschichte einer Freundschaft und der tiefen Liebe zur Handschrift.

Buchcover von «Wie Nietzsche aus der Kälte kam»

Philipp Felsch: «Wie Nietzsche aus der Kälte kam. Geschichte einer Rettung». Verlag C. H. Beck. München 2022. 286 Seiten. 40 Franken.