Literatur: Bis es seinen Wörtern kommt

Nr. 36 –

«Vroeling», das lässt an Frühling oder Fröhlichkeit denken. Doch es gibt das Wort weder im Deutschen noch etwa im Flämischen, wo Frühling «lente» (der Lenz) heisst. Auch ein angeblich südpolnischer Ort namens «Zabriskie», wo Dieter Zwicky sein neues Buch hauptsächlich ansiedelt, findet sich auf keiner Karte. Dieser Autor ist ein versierter Flunkerer und Erfinder – seine Wirklichkeit sind die Worte, und aus diesem Fundus schöpft er mit schwindelerregender Fantasie und Farbigkeit.

In seinem letzten Buch «Hihi, mein argentinischer Vater» stattete der 65-jährige Zürcher zwei fiktive Vaterfiguren mit abenteuerlichen Leben aus. In «Vroeling» erzählt nun eine Mutter, deren Berichte vom Verfasser aufgezeichnet werden. So berichtet sie etwa vom Halbonkel Mlido, der an den Olympischen Spielen von Melbourne – bei Zwicky nicht 1956, sondern 1948 – im Hindernislauf antritt. Mlido stürzt krachend, stirbt den «jähen Hürdlertod», worauf es dann von der mitgereisten Tante Pina heisst, dass es in ihren Ohren so heftig geraschelt habe, «wie wenn Engerlinge beim Tunnelieren des Vorjahreslaubs zwischenzeitlich in Panik geraten und mit erhobenem Unterleib einen Paarungstanz imitieren, berichtete sie, sagt Mutter».

Zwicky hat sich mal als «Wort-Narzissten» bezeichnet, er ist verliebt in die Herrlichkeit der Wörter, den wunderbaren Reichtum der Sprache. Wer schlüssige Plots und Charaktere erwartet, wird vor Zwickys verblüffenden Wortorgasmen und manch grotesker Szenerie ratlos innehalten. Wer unbändige Sprachlust und sich überschlagende Bilder mag, wird nicht genug bekommen von seinen Sätzen, wie diesem über einen Jungen, der der jungen Mutter über alles gefiel. Dieser «hatte Lippen wie Schilfrohrlaub, besass Wangen wie aus Frischkäse, in dem eine Anzahl Fliegenbeine steckte, zum wilden Beschnuppern, zum Zungenaufspiessen». Doch die Mutter brachte den Mut nicht auf, sich diesen Jungen vorzuknöpfen, ihn «so lieb wie barsch» an ihre Brust und ihren Bauch zu drücken «und bewusstlos zu verküssen».

Buchcover von «Vroeling»

Dieter Zwicky: «Vroeling». Verlag pudelundpinscher. Wädenswil 2022. 140 Seiten. 32 Franken.