Diesseits von Gut und Böse: Realitätsverweigerung

Nr. 37 –

Die Frage nach der Wahrheit kann bei manchen das Selbstverständnis erschüttern – auch im Hühnerstall. Aber nicht bei Markus Ritter, Präsident Schweizerischer Bauernverband: Der läuft im Stall zur Hochform auf. So krähte er kürzlich in der «Tagesschau» zwischen 22 000 herumwuselnden Küken begeistert: «Sie sind vergnügt, sie sind gut genährt, sie rennen und ‹flätterlen› rum – ich hab den Eindruck, denen gehts gut!»

Wenn nach zwanzig Tagen aus den Küken fette Hühner geworden sind, ists vorbei mit dem Gewusel, sie hinken und rempeln sich an. Weil kein Betrieb das Fernsehen in einen solchen Stall lassen wollte, zeigte Tierschützer Philipp Ryf dem Bauernpräsidenten ein Video. Nach einem kurzen Blick auf Hühner, zwischen denen kein Boden mehr erkennbar war, sagte dieser: «Aber die Tiere haben relativ viel Platz, sie sind gesund!» Das müssten sie auch, die Kon­su­menten wünschten «schöne, wertvolle Fleischstücke».

Der Singsang vom «strengsten Tierschutzgesetz der Welt in der Schweiz» wird von allen Geg­ner:in­nen der Massentierhaltungsinitiative angestimmt: In der EU dürften sogar 100 000 statt nur 28 000 Hühner in einem Stall leben. Trotzdem steht dem einzelnen Huhn hier wie dort nur das oft zitierte A4-Blatt an Platz zur Verfügung. Auch für zehn Menschen würde es ja auf acht Quadratmetern genauso eng wie für hundert auf achtzig Quadratmetern.

Auch die «NZZ am Sonntag» interessierte, wie hoch der Grad der Realitätsverweigerung bei der Gegner:innenschaft ist, und sie konstatierte, dass «der Bauernverband das Wort ‹Massentierhaltung› aus dem Vokabular getilgt» habe.

In dem Artikel lernte ich noch etwas: Um den Tieren den Stress beim Einfangen durch Menschenhand zu ersparen, werden sie mittels vollautomatischer Verlademaschine schonend in Transportkisten geschaufelt. Diese tierfreundliche Massnahme muss leider ein Geheimnis bleiben, denn «die Konsumenten würden das nicht verstehen».

Ich weiss, warum schon seit ewig kein Poulet mehr auf meinem Teller liegt.