Sachbuch: Berlin spricht heute wieder Russisch

Nr. 37 –

Mal bewunderte man einander, mal hasste man sich: Der Osteuropahistoriker Stefan Creuzberger arbeitet die Ambivalenzen der deutsch-russischen Beziehungen heraus.

Ist den Deutschen zu trauen? So dürften sich manche heute in der Ukraine fragen. Mitten im Krieg ist der alte Argwohn wieder da: Werden sich die Deutschen womöglich wieder einmal mit Russland einigen – auf Kosten ihrer Nachbarländer?

Dieses Misstrauen hat historische Ursachen. Im vergangenen Jahrhundert gingen die deutsch-russischen Beziehungen durch Höhen und Tiefen, Deutschland und Russland waren Todfeinde, dann wieder Partner und heimliche oder offene Verbündete, mal hasste man und mal bewunderte man einander. Während in der Schweiz manchen noch die Alpenüberquerung einer russischen Armee unter Alexander Suworow 1799 ein Begriff sein dürfte, ist das Russlandbild der Deutschen vor allem durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. In der Zeit der deutschen Teilung galt Russland im Westen als Erzfeind, im Osten herrschte ein ambivalentes Verhältnis zu den «Freunden» und «Brüdern», wie man sie offiziell nannte. Alles änderte sich mit der Wiedervereinigung, die ohne Russlands Hilfe nicht möglich gewesen wäre: Seither wurde das Bild vom «bösen Russen» durch eine fast verklärte Vorstellung vom guten Nachbarn im Osten abgelöst – bei nicht wenigen verdrängte ein Russenkitsch den einstigen Russenhass.

Zwei Parias der Weltpolitik

Der Osteuropahistoriker Stefan Creuzberger, der in Rostock lehrt, hat den deutsch-russischen Beziehungen im 20. Jahrhundert nun eine Monografie gewidmet. Seine viel gelobte Darstellung, die für den deutschen Sachbuchpreis nominiert war, ist in drei grosse Abschnitte gegliedert: Revolution und Umbruch, Terror und Gewalt, Abgrenzung und Verständigung. Die grossen Ereignisse der gemeinsamen Geschichte von Deutschen und Russ:in­nen thematisiert Creuzberger somit gleich mehrmals, jeweils aber unter anderen Aspekten.

Beide Länder erlebten seit 1900 gewaltige Umbrüche, die oft – wie etwa die Oktoberrevolution in Russland 1917 und die Novemberrevolution in Deutschland 1918 – eng miteinander verknüpft waren. Beide teilen eine Geschichte von Terror und Gewalt, von Massenmord und Zerstörung, mit dem Zweiten Weltkrieg als traurigem Höhepunkt. Aber beide Seiten haben sich auch immer wieder um Ausgleich und Verständigung bemüht: Schon im 19. Jahrhundert gab es Versuche, Bündnisse zu schmieden, später folgte die Annäherung zwischen der Weimarer Republik und der jungen Sowjetunion mit dem Vertrag von Rapallo im Jahr 1922, als die beiden Parias der Weltpolitik zusammenfanden. Nach 1945 war die vom SPD-Kanzler Willy Brandt angestossene Ostpolitik des «Wandels durch Annäherung» prägend, ebenso wie die deutsch-russische Kooperation 1989/90, die zur Wiedervereinigung des geteilten Deutschlands führte.

Creuzberger verknüpft stimmig die intellektuelle Geschichte des deutsch-russischen Verhältnisses mit derjenigen der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung beider Länder. Auch arbeitet er heraus, wie Migration eine wichtige Rolle spielte: Seit den Zeiten der deutschstämmigen Zarin Katharina strömten Deutsche nach Russland; im zaristischen Beamtenadel und im Offizierskorps der zaristischen Armee waren sie überrepräsentiert. Russ:in­nen wiederum, vor allem linke, lebten oftmals im Exil in Deutschland, das ihnen ab 1917 als zentraler Schauplatz der europäischen Politik galt. In den Eliten hüben und drüben war die Kenntnis der Sprache der anderen ebenso verbreitet wie die Bewunderung für die jeweils andere Kultur.

Heute weiter entfernt denn je

Nach dem Ende der Sowjetunion sind Hunderttausende Russlanddeutsche nach Deutschland übergesiedelt: nicht als Ein­wander:in­nen, sondern als Heim­keh­rer:in­nen, die sofort ­einen deutschen Pass bekamen. Daher hat etwa Berlin heute wieder eine gros­se russischsprachige Bevölkerung, wie schon vor dem Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren.

Die Schlachten des Ersten Weltkriegs, der Vertrag von Brest-Litowsk von 1918, der nicht nur der Sowjetunion, sondern auch der ersten ukrainischen Republik das Überleben sicherte, der Vertrag von Rapallo, der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 – das alles liegt lange zurück. Auch die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg verblasst, obgleich in dessen Folge mit Kaliningrad ein Teil des ehemaligen Ostpreussen bis heute in russischem Besitz ist. Aber der Zusammenbruch der Sowjetunion ist zumindest in Russland noch sehr präsent, nicht nur bei Wladimir Putin und seinen Getreuen.

Solche Knotenpunkte der gemeinsamen Geschichte prägen das kollektive Bewusstsein. Creuzbergers detailreiche Darstellung arbeitet so bis in die Gegenwart wirkende mentale Verschiebungen heraus: 1914 zählte man das Deutsche Reich noch zum Westen wie zum Osten Europas. Nach 1949 änderte sich das radikal: Was vom früheren Reich blieb, wurde Teil des Westens, und das blieb auch nach der Wiedervereinigung so. Die Distanz zwischen Deutschland und Russland ist daher heute grösser denn je: Als Eu­ro­päer:in­nen sind die Deutschen für Russ:in­nen Fremde, für die Mehrheit der heutigen Deutschen wiederum zählt Russland gar nicht mehr zu Europa.

Buchcover von «Das Deutsch-Russische Jahrhundert»

Stefan Creuzberger: «Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung». Rowohlt. Hamburg 2022. 672 Seiten. 50 Franken.