Erwachet!: Bücher für die Apokalypse

Nr. 39 –

Michelle Steinbeck schaut in andere Spiegel

«Meine Gedichte werden die Welt nicht verändern», schrieb die italienische Lyrikerin Patrizia Cavalli. Dieser Satz fasst einen mir sehr bekannten Gedanken, der die Ohnmachtsgefühle der letzten Tage trifft. Das dazugehörige Gedicht ist schlicht und sehr gut:

«Jemand hat mir gesagt / meine Gedichte werden sicher / die Welt nicht verändern. / Ich antwortete, sicher ja / meine Gedichte / werden die Welt nicht verändern.»

Trotzdem und deshalb schreibe ich heute lieber über Cavalli als über die erste Ministerpräsidentin Italiens (mit kurzer Amtszeit, bitte). Weil ihre Lektüre mir einmal mehr das Potenzial guter Literatur beweist. Mark Vonnegut, Sohn des US-Schriftstellers Kurt Vonnegut, beschreibt das so: «Lesen und Schreiben sind als solche bereits subversive, umstürzlerische Akte. Sie stürzen die Ansicht um, alles müsse so sein, wie es ist, man sei allein, niemand habe je das empfunden, was man selbst empfunden habe.» Oder in Cavallis Worten: «Wenn ich Gedichtbände aufschlage und meine Augen wie über einen Spiegel gleiten.»

In einem Interview erklärte sie 2017, dass sie die Gedichte ihrer Lieblingsdichter:innen immer auswendig lernt: «Das ist wichtig, sie leisten mir Gesellschaft: Ich gehe die Strasse lang und sie retten mich irgendwann.»

Im Sommer ist sie gestorben, mit 75 Jahren. Ihre ersten Gedichte, so erzählte sie, habe sie in der fünften Klasse geschrieben: «Als ich mich in Kim Novak verliebte.» Sie kam aus dem Kino nach Hause und sagte ihrer Mutter, sie wolle die Schauspielerin kennenlernen. Weil die Mutter das Unternehmen wenig ernst nahm, trat sie für eine Woche in den Hungerstreik und schrieb schliesslich folgende Zeilen: «Wenn Kim Novak sterben würde. Wo sind meine schwarzen Kleider? Wo die sichtbare Trauer? Nicht da? Tja, macht nichts. Sie wird schon lange tief in meinem Herz gewesen sein.»

Cavalli beschreibt sich als unglückliches Kind, als Philosophiestudentin in Rom verzweifelt: «Ich fragte: Wo sind die Lesben? Ist es möglich, dass es hier keine Frauen gibt?» Alles änderte sich, als sie Elsa Morante traf: «Da begann mein Leben.» Die 35 Jahre ältere Schriftstellerin war ihr Gefährtin, Mentorin und Muse; einzig ihr Urteil zählte. Als Morante ihr bescheinigte, tatsächlich Dichterin zu sein, kam Cavalli der Erfolg, der auf die Publikationen folgte, nur natürlich vor. Leben und Schreiben – in ihrer Erzählung scheint alles «Glückssache».

Eigentlich wollte sie Prosa schreiben, «aber ich war zu faul, ich brauchte immer sofortige Befriedigung». Zum Geldverdienen war sie Kunsthändlerin, machte «in zwei Minuten eine Menge Geld» – bis sie anfing Skrupel zu entwickeln. Da fing sie lieber mit Pokern an: «Ich habe jede Nacht bis sieben Uhr morgens gezockt. Alle Maler in San Lorenzo hatten Angst vor mir. Ich habe Milliarden Zigaretten geraucht und meine Gesundheit ruiniert.» (Der erwähnte Kurt Vonnegut behauptete übrigens in seiner letzten Rede, er habe Pall Mall verklagt, weil er so viel geraucht habe und noch immer nicht gestorben sei.)

Patrizia Cavalli ist gestorben, für schwarze Kleider ist nicht die Zeit. Umso mehr fürs Auswendiglernen ihrer Gedichte und sie Vor-sich-hin-Murmeln auf der Strasse:

«Andrò dai miei amici andrò a cena / consolerò cosí la mia pena.»

(Etwa: «Ich gehe zu meinen Freunden ich gehe essen / So tröste ich meine Tristessen.»)

Michelle Steinbeck ist Autorin. Sie empfiehlt die Bücher von Patrizia Cavalli und Kurt Vonnegut.