Landschaftsschutz: Raus aus der Kulisse

Nr. 39 –

Die Berge bröckeln, die Planer:innen gestalten, die Zersiedlung geht weiter – und warum redet niemand über Klassenfragen? Gedanken zur aus dem Gleichgewicht geratenen Landschaft.

Lac de Joux in der Waad, im Vordergrund eine Badeplattform
Der Lac de Joux in der Waadt: Beziehungen, Besitzverhältnisse, Mikroorganismen, Nährstoffflüsse – vieles in der Landschaft ist nicht unmittelbar sichtbar. Foto: Ursula Häne

Die Instabilität beginnt oben.

Ein Seitental des Oberengadins, eine Hütte, Ende Juli. Es donnert hinter dem Piz Linard. Aber dieses Dröhnen, das dann einsetzt, ist kein Donner. Geröll und Wasser fliessen den Hang herunter, in die Erlen hinein und darunter wieder heraus, decken die Wiese zu. Alte Geröllspuren enden am Bach; man sieht, das geschieht nicht zum ersten Mal. Und doch lässt sich die Frage nicht verscheuchen: Was, wenn dieses Mal mehr kommt? Wenn der ganze Berg nicht mehr hält? Wie war das vor fünf Jahren im Bergell, als ein Teil des Pizzo Cengalo abbrach, auf den Gletscher fiel, das Eis pulverisierte und sich das ganze Gemisch das Val Bondasca hinunterwälzte? Was sahen die Menschen, die dort wanderten, auf einem völlig sicher scheinenden Wanderweg unter der Waldgrenze? Was dachten sie als Letztes?

Der Permafrost taut auf. Der Untergrund im Gebirge, bisher durch Eis zusammengehalten, wird instabil. Das geschehe viel langsamer als das Schmelzen der Gletscher, sagt Glaziologe Wilfried Haeberli. «Der Permafrost wird noch Generationen beschäftigen, wenn die Gletscher längst weg sind. Es werden auf lange Zeit Ungleichgewichte dominieren.»

Haeberli steht auf dem Rapperswiler Campus der Ostschweizer Fachhochschule (OST) und erklärt, wie die bröckligen Hänge in die Seen rutschen können, die dort entstehen, wo bisher Gletscher waren. Wie das Flutwellen auslösen kann. «Man darf diese Seen nicht sich selbst überlassen.» Die Destabilisierung des Hochgebirges sei eines der grossen Probleme der Klimaerwärmung. «Aber sie ist nicht in den Köpfen.»

Liegt es am Wort?

Instabilität überall, in den Bergen, in der Weltpolitik, im Klima; alles fragil, viele Gründe zur Panik. Gleichzeitig diese Ordnung da draussen, die unerschütterlich scheint: die grünen Wiesen, die Berge am Horizont, die Neubauquartiere. Das Beruhigende, manchmal schon Apathische des Schweizer Mittellandes: Hier passiert nichts. Hier doch nicht. Während die News auf allen Kanälen Bedrohung schreien. Vielleicht ist es auch diese Diskrepanz, die die Erwachsenen hypernervös und die Jugend depressiv werden lässt. Zu wissen, es geht nicht mehr. Aber man sieht nichts davon.

In Rapperswil am Zürichsee treffen sich Anfang September über 300 Fachleute zu einem zweitägigen Kongress über Landschaft: Hochschulvertreterinnen, Beamte, Planungsbüros, NGOs vom SAC bis Mountain Wilderness. Auf dem Programm über sechzig Referate, von «Biodiversitäts- und Klimakrise gemeinsam lösen» bis «Wie verändert Instagram die alpine Landschaft?». Ausgerechnet in der Woche, in der die Umweltkommission des Ständerats beschliesst, Landschaftsschutz sei nur eine lästige Hürde auf dem Weg aus der Stromlücke. Das Thema dominiert die Pausengespräche, einige haben es auch kurzfristig in ihre Referate eingebaut. Die Landschaftsschützer:innen wirken recht hilflos gegenüber dem geballten Angriff gegen die Umweltgesetze.

Irgendwann fragt man sich: Liegt es auch am Wort? An diesem Begriff, der an Landschaftsmalerei denken lässt, an arkadische Gartenutopien, an Luxus, an Kulisse? Der etwas Stockbürgerliches oder gar Feudales hat, sicher nichts Emanzipatorisches? «Landschaft» reduziere die Umgebung auf das Optische, auf den Sehsinn, sagt der Engadiner Künstler Curdin Tones, der einen Workshop mitentwickelt hat, um die Landschaft mit der Nase zu entdecken. Ja, an andere Sinne denkt man beim Wort Landschaft nicht unbedingt. An Stoffflüsse schon gar nicht. Eher an Tapete.

Tausend Bäume ohne Platz

Doch vieles in der Landschaft ist nicht unmittelbar sichtbar: Beziehungen, Besitzverhältnisse, Mikroorganismen, Nährstoffflüsse. Darauf weist Landschaftsarchitekt und OST-Professor Christoph Küffer in seinem Referat hin. Mit seinen Student:innen besucht er immer wieder den Permakulturhof Balmeggberg im Emmental. Die Permakultur hat den Anspruch, Landschaften zu gestalten, die schön und biodivers sind und in denen gleichzeitig vielfältiges Essen wächst – das wäre ein Weg aus der Kulisse. Doch die «nature-based economy», die manche als Strategie gegen den ökologischen Notstand propagieren, hat ihre Tücken. Nämlich viele Parallelen zur Care-Arbeit, sagt Küffer: Es ist intensive, anspruchsvolle Arbeit, die auf Beziehungen basiert – und ein hohes Burn-out-Risiko mit sich bringt. Und doch unvermeidlich, denn eine Landschaftsgestaltung, die von den Überschüssen des globalen Kapitalismus lebe, sei keine Lösung: «Es reicht nicht, Landschaftselemente in Bern zu konzipieren, in Zug zu finanzieren und im Engadin umzusetzen.» Das sei der Elefant im Raum: «Wir haben eine Wirtschaft, die hier und woanders Landschaft zerstört.»

Wenige sprechen das so offen aus wie Küffer. Manche Referent:innen umgehen das Thema auf Zehenspitzen, andere scheinen es gar nicht wahrzunehmen. Das Resultat tönt dann nichtssagend, bürokratisch oder schlicht seltsam, wie die Kurzreferate der verschiedenen Bundesamtsvertreter:innen (Umwelt, Kultur, Raumentwicklung und Landwirtschaft), die sich gegenseitig versichern, alles stehe zum Besten. «Mich haben Zufriedenheit und Stolz dieses Auftritts berührt», wird Publizist und Kongressbeobachter Köbi Gantenbein am Schluss spöttisch sagen. Doch seien ihm leise Zweifel gekommen: «Warum dann dieses rapide Verschwinden von Biodiversität? Warum weiterhin diese muntere Zersiedlung?» Ja, in diesem Land wird so viel geplant, geregelt, gestaltet. Aber wie viel bringt das, wenn gleichzeitig das Parlament für den Autobahnausbau Milliarden spricht, die Gemeinden in ihren immer noch viel zu grossen Bauzonen landschaftsfressende Flachbauten bewilligen – weil die Gewerbevertreter:innen im Lokalparlament sitzen – und Immobilienkonzerne gesichtslose Wohnwürfel in die Landschaft pflanzen, die niemand braucht?

Ein tragisch-komischer Einblick in helvetische Mentalitäten kommt aus Chêne-Bougeries, einem reichen Vorort von Genf. Dort soll die Gemeinde in zehn Jahren tausend Bäume pflanzen. So haben es die Stimmbürger:innen beschlossen. Tausend Bäume – das tönt toll, nach einem kleinen Beitrag zur Rettung der Welt. Nur hat es im Ort gar keinen Platz für so viele Neupflanzungen – dafür schon viele alte, ökologisch wertvolle Bäume. Immer wieder fallen einige von ihnen der Bautätigkeit zum Opfer. Man habe daher versucht, das Bewusstsein für die alten Bäume zu schärfen, sagt Natacha Guillaumont von der Genfer Landschafts- und Architekturhochschule Hepia, die das Projekt begleitet. Aber das Interesse an langfristigen Fragen sei gering. «Die Privaten wollen Bäume pflanzen, um die Nachbarn nicht zu sehen. Sie wollen auch viele Swimmingpools», so Guillaumonts lakonischer Kommentar.

Anne Brandl von der Universität Liechtenstein schickt ihre Student:innen zum Wandern nach St. Gallen. Radikal vom Rand her, manchmal auch mitten in der Nacht, vom letzten bis zum ersten Zug. Zuerst hätten die jungen Leute oft gar keine Freude: «Warum muss ich das? Warum steigen wir bei Ikea aus?» Hinterher seien aber viele stolz, Kälte, Dunkelheit und Orientierungslosigkeit ertragen zu haben, und nähmen diese scheinbar wertlosen Transiträume anders wahr. «Agglowandern heisst den Zustand der Landschaft persönlich nehmen.» Mit Kolleg:innen hat Brandl ein Manifest für diese Tätigkeit verfasst, in dem es heisst: «Agglowandern ist Widerstand. Agglowandern stärkt den öffentlichen Raum. Nur durch Agglowandern werden wir die Biodiversität retten.»

Zum Beispiel Uster

Dass kommunale Politik einen Unterschied machen kann, zeigt das Referat von Stephan Felber aus Köniz bei Bern, wo es offenbar gelingt, Verdichtung und Freiraumerhaltung zu verbinden. Positiv stimmt auch eine Exkursion nach Uster. Die drittgrösste Stadt des Kantons Zürich nennt sich «Wohnstadt am Wasser» – und es passt, wie ein Spaziergang mit den beiden ortskundigen Landschaftsarchitekt:innen Sabine Kaufmann und Thomas Ryffel zeigt. Usters einstige Industrie ist dank der Wasserkraft des Aabachs gewachsen. Heute schwimmen fette Karpfen in einem Teich im Stadtpark, die Siedlung Im Lot hat eine eigene Badi im Industriekanal. Und das beeindruckende Zellweger-Areal wirkt wie eine sozialdemokratische Raumutopie: weite Weiher, eine von Schwemmholz inspirierte Brücke des Künstlers Tadashi Kawamata, Skulpturen von Fischli / Weiss und anderen – alles öffentlich zugänglich. Im Quartierpark Hohfuren wurde das heute viel diskutierte Konzept der «Schwammstadt» schon vor zwanzig Jahren umgesetzt: Ein Feuchtgebiet sammelt Dachwasser, kühlt die Umgebung und schützt vor Überschwemmungen. Das Ganze ist nicht nur praktisch, sondern auch wunderschön – Blutweiderichblüten leuchten magentarot, Weidenblätter flirren in der Sonne.

In Uster zeigt sich: Zentral ist die Frage, welcher Raum öffentlich zugänglich ist. Und das ist eine Klassenfrage. Welche Raumplanung, welchen Umgang mit Räumen brauchen Menschen mit wenig Möglichkeiten und wenig Geld? Die oft dort wohnen, wo es laut, eng und die Luft schlecht ist? Am Landschaftskongress geht es darum kaum. Öffentliche Parks von hoher Qualität sind ein guter Anfang, mehr aber auch nicht. Die heftig diskutierten Fragen nach Privilegien, nach Perspektiven jenseits des weissen Mittelstands – in der Landschaftsszene sind sie noch nicht angekommen.