Die Region Kosovo: Seit Jahrhunderten umkämpfte Grenzen

Nr. 41 –

Was die Interessen europäischer Grossmächte mit der Entwicklung hin zum heutigen Konflikt zu tun haben. Eine Skizze der Geschichte des Kosovo.

Die Demarkationslinien und Grenzverläufe in der Region Kosovo waren in den letzten rund 150 Jahren stets von neuem umstritten. Durch ihre geopolitische Lage dient die Region seit der Antike als strategisch wichtige Passage und Brückenkopf von Gross- und Binnenmächten. In der Forschung gilt sie deshalb als wichtiges kulturelles Grenzgebiet zwischen Ost- und Westeuropa.

Auch wirtschaftlich lockte die Region lokale und internationale Akteure: Das Gebiet des Kosovo ist fruchtbar und verfügt über umfangreiche Bodenschätze. So erhielt etwa in den 1920er Jahren die britische Firma Selection Trust die Konzession für den Abbau des Erzes in den bekannten Trepca-Minen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs rund um die Minen das grösste Industriekonglomerat im sozialistischen Jugoslawien heran. Doch die wirtschaftliche Ausbeutung der Region führte auch dazu, dass sie bis heute zu den ärmsten Europas gehört.

Serb:in­nen und Al­ba­ner:in­nen konnten zurück zu einem Miteinander im Alltag finden.

Zahlreiche Südosteuropahistoriker:innen betonen, dass vor 1875 die Gesellschaft in der Region zwar keine egalitäre gewesen sei, Religionszugehörigkeit aber nicht als bindend gegolten habe, sondern mitunter nach sozialen und wirtschaftlichen Kriterien gewählt worden sei. Dies änderte sich im Zuge der Balkankrise von 1875 bis 1878 und des serbisch/montenegrinisch-osmanischen Krieges. Als das Osmanische Reich aufgrund struktureller Probleme zu schwächeln begann, kriselte es auch in der Region Kosovo, die damals zum osmanischen Verwaltungsbezirk Prizren gehörte. Es waren vor allem die europäischen Grossmächte, die der türkischen Vorherrschaft auf dem Balkan ein Ende setzen wollten. Kleinere Mächte wie Serbien, Montenegro, Bulgarien und Griechenland strebten derweil nach eigenen Nationalstaaten.

Als sich auch Russland, das sich als Protektionsmacht der Slaw:innen verstand, in den Krieg einmischte, sah sich das Osmanische Reich zum Friedensschluss gezwungen. Österreich-Ungarn, Grossbritannien, Frankreich und Italien versuchten, Russlands Einfluss am Mittelmeer einzudämmen, die Situation für die Menschen im und um den Kosovo begann sich radikal zu verändern: Unterschiedlichste Beobachter vor Ort, darunter österreichisch-ungarische, britische oder russische Gesandte, beschreiben brutale Übergriffe auf Andersgläubige, die auch nach dem offiziellen Kriegsende nicht verebbten.

Extreme Gewalt des Nationalismus

Eine weitere Spitze der Gewalt erlebte die Region während der Balkankriege 1912/13, in denen das Osmanische Reich bis an die Grenzen der heutigen Türkei zurückgedrängt wurde. Dabei steht fest: Weder bei den Balkankriegen noch in den Konflikten Ende der 1990er Jahre handelte es sich um spontane Ausbrüche urzeitlichen Hasses, sondern um organisierte Gewalt von paramilitärischen Gruppen und regulären Armeeeinheiten internationaler und lokaler Mächte. Es handelte sich um jene extreme Gewalt, die Na­tionalist:innen benötigten, um eine Gesellschaft auseinanderzubrechen, die ansonsten fähig war, alltägliche Unterschiede innerhalb von Klassen- und ethnischer Zugehörigkeit zu ignorieren. Auch gelang der beabsichtigte Bruch nicht überall: In vielen Bereichen konnten und mussten Serb:innen und Albaner:innen zurück zu einem Miteinander im Alltag finden.

 

 

Nach den Balkankriegen wurde die Region Kosovo grösstenteils an Serbien vergeben. In den folgenden zwei Jahren erlebten viele Albaner:innen im Kosovo und in angrenzenden Gebieten anhaltende Verfolgung und Gewalt. Der Beginn des Ersten Weltkriegs setzte die Spirale der Gewalt fort: Als sich Ende 1915 Teile des serbischen Militärs durch den Kosovo an die Adria zurückzogen und das österreichisch-ungarische Heer nachrückte, wurde dies von vielen Albaner:innen im Kosovo als Befreiung gefeiert. Die darauffolgende brutale Gewalt von Albaner:innen gegen Serb:innen in der Region tolerierten die Vertreter der Habsburger Monarchie, da sie, so ist in den Quellen nachzulesen, auf Verbündete angewiesen waren.

Als der Kosovo nach dem Ersten Weltkrieg Teil des jungen jugoslawischen Staates wurde, ergriff dieser zwischen 1918 und 1941 weitreichende Repressionsmassnahmen auch gegen Albaner:innen. Sie reichten von Drohungen über Vertreibung bis hin zu direkter Gewalt gegen Leib und Leben. Zeitgenössischen Berichten zufolge verübten serbische Zivil- und Militärbeamte in der gesamten Provinz Kosovo brutale Übergriffe gegen die albanische Zivilbevölkerung. Als Reaktion unternahmen sogenannte Kaçaks, «albanische Banden», ihrerseits Überfälle und riefen zur Revolte auf. Bei den Kommunalwahlen in Mitrovica 1924 wurden albanische Kandidaten mit dem Tod bedroht, und bei Schiessereien vor den Wahllokalen kamen mehrere Menschen um, wie Ferhad Bey Draga, ein damaliger Lokalpolitiker, berichtete.

Mit dem Balkanfeldzug der Achsenmächte 1941 kam der Krieg endgültig in den Kosovo zurück. Der Nordkosovo kam mit Serbien unter deutsche Militärherrschaft. Die grössten Teile des Mittel- und Südkosovo wurden als «Neualbanien» in den «grossalbanischen Staat» unter italienischer Herrschaft eingegliedert. Die Aufteilung zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem faschistischen Italien folgte nicht zuletzt wirtschaftlichen Überlegungen – so sollten etwa die ertragreichen Trepca-Minen das Dritte Reich mit Erzen versorgen. Die darauffolgende neue Welle der Gewalt schlug wieder in die andere Richtung zurück, als «grossalbanische» Politiker die Verhaftung und Deportation Zehntausender Serb:innen unterstützten.

Die Erinnerung schwelt weiter

Auch das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte kein Ende der Gewalt: Bereits im ersten Halbjahr 1945 rief der neue sozialistische Diktator Jugoslawiens, Josip Broz Tito, nach radikalen Säuberungen und anhaltenden Aufständen das Kriegsrecht im Kosovo aus. Später versuchte er, durch verordnetes Schweigen, eine Art gesellschaftliche Amnesie, den Frieden wiederherzustellen. Die Gewalt aber und die Erinnerung daran schwelten weiter. Andersdenkende, darunter insbesondere Albaner:innen, wurden verfolgt, verhaftet, gefoltert, mit Berufsverboten belegt oder in die Emigration gezwungen.

1968 und 1981 brachen unter den Albaner:innen im Kosovo Studenten- und Arbeiterinnenproteste aus, die Massenverhaftungen und Kollektivprozesse zur Folge hatten. Im Zuge der achtziger Jahre nahm die antialbanische Stimmung schrittweise zu, nicht zuletzt mit dem Amtsantritt von Slobodan Milošević als serbischem Präsidenten 1989. Sie hatte schliesslich den Ausschluss von Albaner:innen aus dem Staatsdienst und den Universitäten sowie das Verbot albanischer Schulen zur Folge. Während der neunziger Jahre verschlimmerte sich die Situation, 1998 eskalierte sie. Im Kosovokonflikt waren insbesondere albanische, aber auch serbische und Romazivilist:innen die Leidtragenden.

Über die Gründe, weshalb die Region auch in den letzten Jahren nicht zur Ruhe kam, sind zahlreiche Studien erschienen. Während der letzten grossen Ausschreitungen 2004, an denen sich Schätzungen zufolge bis zu 50 000 Kosovoalbaner:innen beteiligt hatten, wurden ethnische Minderheiten, Serb:innen, aber auch Roma aus den Gebieten südlich des Flusses Ibar vertrieben.

Bei all diesen Konflikten, die zu immer neuen Grenzziehungen, Ein- und Ausschlüssen und unerträglicher Gewalt führten, darf man nicht vergessen, dass im Kosovo und in angrenzenden Gebieten, die heute zu Serbien, Montenegro, Nordmazedonien oder Albanien gehören, viele Menschen leben, die ein friedliches Miteinander wollen und leben und die eine Aufarbeitung und ein vielleicht damit verbundenes Überwinden der Vergangenheit befürworten und aktiv unterstützen.

Die Historikerin Franziska Anna Zaugg forscht an den Universitäten Fribourg und Bern zu Konfliktgeschichte, Erinnerungspolitik und südosteuropäischer Geschichte.