Auf allen Kanälen: Das grosse Rauschen

Nr. 42 –

Die Zirkulation «alternativer Fakten» verhindert, dass Wissen politisch wirksam wird. Der Soziologe Nils C. Kumkar hat die davon ausgehende Gefahr für den öffentlichen Diskurs untersucht.

Illustration: Emoji welches viele Fragezeichen «im Kopf» hat

Als die Gesellschaft für deutsche Sprache Ende 2016 «postfaktisch» zum Wort des Jahres erkor, löste das in den Feuilletons Hochbetrieb aus: Wer war verantwortlich für die Erosion der Wahrheit?

Ein Mitschuldiger lag auf der Hand: die Postmoderne. Von «Katerstimmung bei der kulturwissenschaftlichen Linken» war in der «Zeit» die Rede, und in der NZZ konnte man später lesen, die «akademische Linke» habe sich «selbst dekonstruiert». Mit einer neuen «Aufklärung», besseren «Medienkompetenzen» oder einem «neuen Realismus» sollte unsere zerbrochene Wirklichkeit in der Folge wiederhergestellt werden.

Für den Bremer Soziologen Nils C. Kumkar, der ein neues Buch über «Alternative Fakten» beim Suhrkamp-Verlag veröffentlicht hat, führt jedoch die Frage, mit welcher Erkenntnistheorie wir uns gegen den Vormarsch des Postfaktischen rüsten sollten, ins Leere. Denn um Erkenntnisgewinn gehe es bei alternativen Fakten ohnehin nicht. Er schlägt einen Perspektivenwechsel vor: Anstelle des «Was» und «Warum» sollten wir uns um das «Wie» alternativer Fakten kümmern.

Hauptsache, gegen die Schlafschafe

Meist werden alternative Fakten nämlich mobilisiert, um die öffentliche Kommunikation zu stören und dadurch eine politische Behandlung gesellschaftlicher Probleme zu verhindern. Diese Strategie verfolgen etwa die Gegner:innen einer klimapolitischen Wende. Zuerst wird gesagt, die Klimakatastrophe gebe es gar nicht, dann, dass sie nicht menschengemacht sei, und schliesslich, dass ihre Folgen für den Menschen nicht schädlich seien. Bei den Querdenker:innen sieht Kumkar denselben Mechanismus am Werk: Das Virus gebe es nicht, es sei zu infektiös, um durch einen Lockdown bekämpft zu werden, und verursache letztlich sowieso nur einen harmlosen Schnupfen.

Die Serien sich widersprechender Gegenbehauptungen fügen sich zu keinem kohärenten Gesamtbild. Wird eine Aussage widerlegt, wird schnell auf eine andere ausgewichen – und am Ende bleibt immer noch die Möglichkeit, durch den Verweis auf eine globale «Kabale» die ganze Argumentation über den Haufen zu werfen und das Spiel noch mal von vorn zu beginnen. Wichtig allein: Man erhält das «kommunikative Rauschen» aufrecht, wodurch verhindert wird, dass unangenehme Einsichten in die Folgen des Klimawandels und der Pandemie zu Grundlagen effektiven politischen Handelns werden.

Alternative Fakten, so Kumkars Fazit, schaffen keine Basis, aufgrund derer man sich eine Überzeugung über einen empirischen Sachverhalt bilden könnte. Ganz im Gegenteil soll eine eindeutige Überzeugungsbildung zugunsten eines unbestimmten Zweifelns unterbunden werden. Alternative Fakten haben deshalb keinen konkreten Inhalt, sondern ihr gemeinsamer Bezugspunkt ist stets dasjenige, wogegen sie sich richten: Hauptsache, gegen den «Mainstream», die «Lügenpresse», das «wissenschaftliche Establishment» oder die «Schlafschafe».

Fakten ohne Alternative

Spätestens hier entpuppt sich der Begriff eigentlich als Etikettenschwindel, denn alternative Fakten liefern keine alternativen Deutungen eines umstrittenen Sachverhalts. Ihre Funktion erschöpft sich in der Behauptung, dass etwas nicht ist. Das nimmt Kumkar als Anlass zur Entwarnung: Eine allgemein geteilte Wirklichkeit gibt es noch, allen Befürchtungen zum Trotz. Alternative Fakten seien auch gar nicht in der Lage, diese zu zerstören. Das gilt selbst für die berüchtigten «Filterblasen»: Man muss nämlich mit ausreichender Sicherheit wissen, was überhaupt der «Mainstream» über den Klimawandel oder die Pandemie weiss, um sich davon abgrenzen zu können.

Weil sich Realitäten wie die Klimakatastrophe mit einer solchen Vehemenz aufzwingen, sehen sich gewisse Akteur:innen genötigt, diese nicht bloss zu ignorieren, sondern aktiv zu verdrängen. Stets jedoch werden alternative Fakten auf jene Realität zurückgeworfen, von der sie sich abzuwenden versuchen. So gesehen, liesse sich der Rekurs auf alternative Fakten mit etwas Vorsicht auch als verzweifeltes Rückzugsgefecht deuten – das eigentlich bereits verloren ist.

Nils C. Kumkar: «Alternative Fakten. Zur Praxis der kommunikativen Erkenntnisverweigerung». Suhrkamp Verlag. Berlin 2022. 336 Seiten. 25 Franken.