Literatur: Pilz kommt ins Plaudern

Nr. 42 –

Eigentlich wollte sie nur abschalten in diesem überwucherten, alten Kino irgendwo an der Küste. Aussteigen aus ihrem rastlosen Dasein als weltreisende Influencerin, heute hier, morgen dort. Doch zwischen Schutt und Staub keimen dann utopische Fantasien bei Nora: Ein «neues Wir» will sie entwerfen, «ohne Bildschirme, ohne Hierarchie». Das, was sich unsichtbar in diesem Komplex eingenistet hat, greift da schon unmerklich auf sie über.

Und das tut es auch bei uns, wenn wir diesen neuen Roman von Benjamin von Wyl lesen. Denn das ist sein zentraler Kniff: Der Pilz, der in diesem Bau wuchert, spricht als Erzählstimme zu uns, in der ersten Person Mehrzahl von «dreiundzwanzigtausend Geschlechtern». Das ist, als literarische Idee, natürlich extrem zeitgeistig und auch ziemlich bestechend. Wobei der Pilz, dank Zugang zu unserem digital vernetzten Wissen, dann doch öfter ins kommune Geplauder eines allwissenden Erzählers zurückfällt. Vor allem dort, wo es ausgiebig um den Altenpfleger Andreu, einen Fan von Nora, geht, der schon mehrfach die Grenze vom Follower zum Stalker überschritten hat – und der sich dann fast wie im Märchen auf den Weg zu seiner vermeintlichen Prinzessin in deren Schloss macht.

«In einer einzigen Welt» ist dort am stärksten, wo das Myzel im Text auch sprachlich um sich greift: wenn der Pilz die Menschen spöttisch als «einzelige» Wesen mustert oder wenn er – nach menschlichen Massstäben – ins Delirieren kommt. Da schwingt sich der Roman immer wieder zu einer abgefahrenen Ökofabel à la Jeff VanderMeer auf, die von der Auflösung speziesistischer Grenzen träumt. Dann wieder klingt der Pilz wie ein Leitartikler oder kalauert sich durch seine mehr oder weniger lustigen Verballhornungen von «Individuum». Aber das ist wohl nur die niedere menschliche Vernunft, die so über ein Wesen urteilt, das sich jeder Kritik entzieht. Ziemlich dreist, dieser Pilz, wenn er uns zuletzt noch viel Spass beim Aufspüren von Schwächen in seiner Geschichte wünscht.

Buchcover von «In einer einzigen Welt»

Benjamin von Wyl: «In einer einzigen Welt». Roman. Lector Books. Zürich 2022. 208 Seiten. 30 Franken.