Schach: Drama ohne Ende

Nr. 42 –

Seifenoper und Krimi zugleich: Schach hat längst nicht mehr viel mit dem Klischee vom muffigen Denksport gemein. Das Spiel hat sich online als Massenphänomen neu erfunden.

Hans Niemann, Schachsportler, beim Nachdenken am Schachturnier
Hans Niemann hört tief in sich hinein: Der neunzehnjährige US-Amerikaner bringt den Schachsport in die Schlagzeilen. Foto: Lennart Ootes, Grand Chess Tour

Selbst einer der bekanntesten Schachgrossmeister zieht mittlerweile eine Theorie in Betracht, die so absurd klingt, dass sie bis vor kurzem nur in den Schmuddelecken des Internets formuliert worden wäre. «Vibrierende Analkugeln?», fragt Simon Williams, ein populärer Schachkommentator. Er hält inne, um über die Theorie nachzudenken, dass ein ferngesteuertes Sexspielzeug einem Schachspieler beim Betrügen geholfen haben könnte. Sein Urteil: «Es ist völlig surreal. Lächerlich. Monty-pythonesk. Es ist eine interessante Idee. Aber es funktioniert nicht.»

Medien in aller Welt stört das nicht, sie berichteten über jede Wendung und jede noch so schmutzige Anschuldigung im aktuellen Schachskandal. Dieser begann damit, dass Weltmeister Magnus Carlsen vor ein paar Wochen aus einem prestigeträchtigen Turnier ausstieg, nachdem er gegen den neunzehnjährigen US-Amerikaner Hans Niemann verloren hatte.

Über Nacht wurde Schach zur Seifenoper, aber auch zum Krimi. Niemann sagt, er sei bereit, nackt zu spielen, um zu beweisen, dass er jetzt «sauber» sei. Zuvor hatte er eingeräumt, als Jugendlicher vor einigen Jahren online betrogen zu haben. Carlsen glaubt ihm nicht. Als beide kürzlich in einem Onlineturnier erneut aufeinandertrafen, trat der Weltmeister nach nur einem Zug von der Partie zurück.

Jünger und hipper

Die Geschichte erzählt aber noch etwas anderes. Schach hat sich radikal verändert. Das Stereotyp vom muffigen Spiel, das von sozial unbeholfenen Männern in zugigen Gemeindesälen gespielt wird, ist überholt. Eine neue Ära des Schachs hat begonnen: jünger, hipper – und sogar mit ein bisschen Rock ’n’ Roll. Online ist eine neue Generation von glamourösen Schachstreamer:innen herangewachsen. Millionen Menschen spielen jetzt Schach und gucken dabei zu.

Dieser Imagewandel ist vor allem auf Magnus Carlsen, seit mehr als einem Jahrzehnt der beste Spieler der Welt, zurückzuführen. Carlsen ist jung, witzig und schlagfertig – und sein Leben dreht sich nicht nur um die Schachwelt. Früher modelte der 31-Jährige für ein Kleiderlabel. Der Norweger ist zudem ein passabler Pokerspieler. Sein Unternehmen Play Magnus Group, das unter anderem Schach-Apps vertreibt, wurde kürzlich für 82 Millionen US-Dollar verkauft.

Eine weitere wichtige Entwicklung für den Aufstieg des Denksports wurde 2017 angestossen. Die grösste Schachwebsite der Welt, chess.com, ging mit der Streamingplattform Twitch eine Partnerschaft ein, um das Spiel zum E-Sport zu machen. Die Coronalockdowns und die Netflix-Serie «Das Damengambit» kamen hinzu und befeuerten den Boom. Im August 2022 hostete die beliebte und kostenlose Website Lichess mehr als 92 Millionen Schachpartien. Im August 2016 waren es noch 6 Millionen gewesen.

Blitzpartien im Internet

«Während der Pandemie ging chess.com clever vor. Die Website heuerte E-Sport-Stars an, die dann bei einer Reihe von Amateur:innenturnieren spielten», sagt Schachgrossmeister Daniel King. «Diese Turniere wurden enorm gross.» Plötzlich verbrachten Spieler wie der 34-jährige Hikaru Nakamura, früher Zweiter hinter Carlsen im klassischen Schachspiel, viel mehr Zeit damit, online ihre Blitz- oder Bulletpartien zu streamen. Dabei haben sie nur fünf oder noch weniger Minuten Bedenkzeit für die gesamte Partie. Nakamura tut das, während er im Chat Fragen beantwortet und über die neusten Schachdramen spricht. «Er hat sich zum perfekten Schachstreamer entwickelt und macht Millionen damit», sagt King. «Er ist besessen. Er ist meinungsstark. Und es ist ihm egal, ob er Leute verärgert.»

Von Nakamura abgesehen, gehören die meisten Contentproduzent:innen nicht zur Weltelite des Sports. Aber sie hätten einen Weg gefunden, ein neues Publikum zu erschliessen, sagt Jennifer Shahade, zweimalige US-Schachmeisterin und Buchautorin. «Viele der Superstarstreamer:innen sind unglaublich talentiert, Akademiker:innen und sozial kompetent», sagt Shahade.

Eins der neuen Streamingtalente ist die zwanzigjährige Anna Cramling aus Schweden. Vor zwei Jahren plante sie noch, Politikwissenschaft zu studieren. Stattdessen ist sie heute eine Promi im Schach, obwohl sie auf der Weltrangliste nur etwa auf Rang 17 000 steht. Cramling ist erfolgreich, weil sie Inhalte produziert, die gut anzuschauen sind. Ein Video, das sie im Juli bei einem Strassenspiel gegen Carlsen zeigt, wurde auf Youtube drei Millionen Mal geklickt. Cramling ist heute wahrscheinlich bekannter als ihre Mutter Pia, eine Grossmeisterin, die seit vierzig Jahren zu den Spitzenspielerinnen gehört. «Zu ihrer Zeit war sie wirklich bekannt», sagt Cramling über ihre Mutter. «Aber heute gibt es eine neue Art, im Schach bekannt zu werden. Und dafür muss man nicht der oder die Beste auf der Welt sein.»

Lukratives Geschäft

Laut Youtube-Statistiken sei ihr Publikum zwischen 18 und 25 Jahre alt, berichtete Cramling. Rund 95 Prozent sind männlich. Und: Sie sind bereit, Abonnements zu bezahlen oder Werbung zu schauen, um Spieler:innen zu unterstützen. Levy Rozman, der auf dem Kanal «GothamChess» streamt, soll mehr als eine Million US-Dollar pro Jahr auf Youtube verdienen. Ein Datenleck auf Twitch im vergangenen Jahr machte öffentlich, dass Nakamura allein über diese Plattform 773 000 Dollar verdient hatte.

2021 versuchte der internationale Schachverband Fide, aus dem wachsenden Interesse von Frauen am Sport Kapital zu schlagen, indem er einen Sponsoren­vertrag mit einem Brustvergrösserungsunternehmen unterzeichnete. Das löste eine Welle der Empörung aus. Abseits des Schachbretts gab es ohnehin jede Menge Dramen: Grossmeister etwa, die sich in den sozialen Medien gegenseitig beschimpften. Zudem führt die Kombination von Alkohol und dem vielen Unterwegssein häufiger zu Beziehungen zwischen Spielerinnen und Spielern, als man denken würde. ­«Viele kommen so zusammen», erzählt eine Quelle, die anonym bleiben möchte. «Das ist nicht besonders ungewöhnlich. Es gab auch schon immer das Groupiephänomen.»

Früher aber – vor der Ära der sozialen Medien – blieb das meist im Verborgenen. Bei der Schacholympiade 1986 etwa ärgerte sich der britische Spieler Nigel Short sehr darüber, dass sein Rivale Tony Miles an Brett eins gesetzt wurde und nicht er. Aber erst als Miles 2001 starb, enthüllte Short, wie er sich damals rächte. «Ein gewisses Mass an Genugtuung bekam ich nicht nur, indem ich Tony beim Schach in den Schatten stellte», schrieb er, «sondern auch, indem ich mit seiner Freundin schlief. Das war definitiv befriedigend, wenn auch nicht gerade das Verhalten eines Gentlemans.»

Alkohol als Stresstherapie

Der Grossmeister und Philosoph Jonathan Rowson erinnert sich, wie vermutlich Alkohol die Reaktion eines russischen Grossmeisters beeinträchtigte, den er 2004 in einem renommierten Turnier besiegte. «Es war ein ganz eindeutiges Spiel, ohne jeden Anlass, mir Betrug zu unterstellen», erinnert er sich. «Ich war daher völlig überrascht, als der russische Grossmeister mir dann drohte: ‹Ich sehe dich auf der Strasse, ich töte dich. Verstehen?› Er war ein bisschen ein schräger Typ und zu jenem Zeitpunkt vermutlich betrunken. Aber ich war wirklich schockiert.»

Alkohol und Schach gehören auch heute noch oft zusammen. «Viele Spieler sind starke Trinker», erzählt Maria Emelianova, eine renommierte Schachfotografin. «Ein Schachspieler ist etwa bekannt dafür, dass er nach seiner letzten Partie im Turnier verschwindet. Wenn er zehn Minuten später zurückkommt, hat er ganz glasige Augen.» Das zeige, wie stressig der Denksport ist. «Manchmal können Spieler nach einer Partie die ganze Nacht nicht einschlafen, weil sie ihre Züge immer wieder im Kopf durchspielen.»

Gerade online sind zudem Betrügereien weitverbreitet. Allein im März 2020 schloss chess.com deswegen fast 10 000 Accounts, darunter auch jene von sieben namhaften Spieler:innen. «Betrug ist der Fluch eines Schachspielers», sagt Jonathan Rowson. «Denn man fragt sich immer: ‹Wie versucht dieser Gegner oder diese Gegnerin, mich zu kriegen?› Das erfordert hohe Wachsamkeit, die in Paranoia ausarten kann», sagt er.

Atmosphäre des Verdachts

Das gilt erst recht auf Spitzenniveau, wo es um viel Geld geht. Dort ist ein eindeutiger Nachweis mithilfe von Computeranalysen möglich. Der oberste Antibetrugsexperte der Fide, Kenneth W. Regan, ist überzeugt, dass Niemann in den vergangenen zwei Jahren nicht betrogen hat. Aber einige andere äusserten Bedenken, weil der US-Amerikaner in einigen Partien unglaublich akkurat spielte. Chess.com und Carlsen sind ebenfalls überzeugt, dass Niemann auch nach 2020 betrogen hat. Bisher aber brachte Carlsen keinerlei Beweise vor, sondern formulierte lediglich auf Twitter eine Intuition, dass irgendwas nicht in Ordnung gewesen sei. Viele finden das unfair gegenüber Niemann. Dieser erklärte seine auf‌fälligen Leistungssprünge damit, dass er zehn Stunden am Tag trainiert habe.

Was das alles für die Schachwelt bedeutet? Sicher eine allgegenwärtige Atmosphäre des Verdachts, die wahrscheinlich nicht so bald wieder verschwinden wird. Carlsens Kritiker:innen werfen ihm vor, Niemann rücksichtslos zu behandeln, weil der Neunzehnjährige durch die Anschuldigungen weniger Einladungen zu wichtigen Turnieren erhalten könnte. Andere dagegen meinen, dass der Norweger endlich ein Thema ins Scheinwerferlicht rücke, unter dem der Schachsport schon allzu lange leidet.

«Die Spieler:innen sind paranoid», sagt der US-Grossmeister Robert Hess. «Bei jeder Partie wissen sie, dass in ihrer Mitte Betrüger:innen sind. Alle sind sehr angespannt.» Zudem fehle beim Schach ein Spieler:innenverband, an den man sich wenden könnte. «Es gibt keinen Ansprechpartner, zu dem man sagen könnte: ‹Hey, wir müssen reden.›»

Dieser Artikel erschien zuerst im «Guardian». Aus dem Englischen von Carola Torti.