US-Zwischenwahlen 2022: Die Sache mit der Geduld

Nr. 42 –

Zu lange hat die Demokratische Partei ihre hispanischen Wähler:innen ignoriert. Nun könnten ebendiese im Bundesstaat Nevada über die Mehrheit im Senat entscheiden. Auf Wahlkampftour durch Las Vegas.

Spielautomaten in einem Casino in Las Vegas
Vom Casino bis in die Wohngebiete: Mitglieder der Culinary Workers Union, die in Las Vegas rund 60 000 Angestellte vertritt, wollen im Wahlkampf über eine Million Türen abklappern. Foto: Keystone

Mitten in Las Vegas, an einer seltsam ruhigen Ecke, nämlich nördlich der kolossalen Hotels und Casinos und südlich der vielen kleinen Bars und Hochzeitskapellen, gibt es einen Flachbau aus weissen Ziegeln, in dem die Macht sitzt. Man sieht es dem Gebäude, das von Palmen beschützt wird, nicht an. Es ist auch eine andere Form von Macht, als man es vielleicht vermuten würde, sie funktioniert nur kollektiv, und manche würden sich wünschen, dass sie häufiger in Erscheinung träte. Aber sie ist da, die Macht. Und im Zweifel hat sie die Stadt im Griff.

Zu Hause ist an diesem Ort die Culinary Workers Union, so heisst die Gewerkschaft der Servicearbeiter:innen von Las Vegas, die rund 60 000 Mitglieder hat. Unter anderem Köchinnen, Rezeptionisten, Reinigungskräfte, Kassierinnen und Kofferträger sind durch die Organisation vertreten. Sie sorgen für den Betrieb einer Stadt, umgeben von Bergen und Wüste, die wie keine zweite vom Tourismus abhängig ist.

Die Culinary Workers Union hat in ihrer 87-jährigen Geschichte sagenumwobene Streiks initiiert und bedeutsame Siege für die Arbeiter:innenklasse errungen. Sie zählt zu den wichtigsten Gewerkschaften im Land. Doch ihre Macht übt sie nicht nur durch Arbeitskämpfe aus, sondern immer stärker auch durch ihren Einfluss auf die Politik. Wenn am 8. November in den USA die Midterms, die Wahlen nach der Häfte der Amtszeit des Präsidenten, über die Bühne gehen, wollen die Mitglieder der Culinary Workers Union über eine Million Türen abgeklappert haben. Viele der Mitglieder sind bereits seit Monaten aktiv, manche haben sich extra freigenommen.

Eine sonderbare Woche lang

Es sind Leute wie Adalila Camal Vargas, 45 Jahre alt, eine dreifache Mutter, die aufgrund ihres Aufenthaltsstatus nicht wählen darf und deshalb umso besorgter den Ausgang der Midterms verfolgt. Oder Shane Richard (34), ein Anarchist, der lieber den linken Bernie Sanders als Präsident hätte, aber man kann ja nicht alles haben. Oder David Suarez (64), gerade frisch in Rente, der nach Jahrzehnten im Hotelgewerbe seiner Gewerkschaft «etwas zurückgeben möchte», wie er sagt.

Sie machen bei diesem Wahlkampf mit, weil sie wollen, dass die Demokratische Partei die wichtigsten Posten im Bundesstaat Nevada behält. Wobei man es wohl anders formulieren muss, denn die Hauptmotivation liegt darin, eine Machtübernahme durch rechtsradikale Republikaner:innen zu verhindern. Das demokratische Gerüst sichern, so wacklig es auch ist (vgl. «Todesdrohungen und Bürgerkrieg»).

Adalila Camal Vargas, Gewerkschaftsaktivistin
Adalila Camal Vargas, Gewerkschaftsaktivistin

Dass es Gewerkschaftsmitglieder sind, die in Las Vegas an vorderster Front versuchen, die Demokratie zu retten, ist die eine Beobachtung. Die andere ist die, dass vor allem Hispanics von Tür zu Tür ziehen. Überraschend ist das zwar nicht, wenn man bedenkt, dass sich auch mehrheitlich Hispanics in der Culinary Workers Union und in progressiven Organisationen wie Make the Road und Somos Votantes organisieren. Doch damit machen sich im Südwesten der USA bereits jetzt strukturelle Verschiebungen und politische Veränderungen bemerkbar, die zunehmend auch für das ganze Land eine Rolle spielen. In Nevada prägen hispanische Aktivist:innen nicht nur die wichtigsten Organisationen, sie stellen inzwischen auch ein Fünftel der Wahlberechtigten, und der Anteil wächst von Jahr zu Jahr.

63 Millionen Hispanics wohnen laut Zensus in den USA, womit all diejenigen Menschen gemeint sind, die Wurzeln in spanisch sprechenden Ländern haben. Bei den Wahlen 2020 stellten sie zum ersten Mal in der Geschichte die grösste Minderheit. 35 Millionen von ihnen sind bei den diesjährigen Midterms wahlberechtigt. Kurz: Die hispanische Wähler:innenschaft, die von beiden Parteien lange Zeit ignoriert und unterschätzt wurde, ist längst ein entscheidender politischer Faktor.

Es gibt Bundesstaaten, die regelmässig im Mittelpunkt der US-amerikanischen Politik stehen. Der «Silver State», wie Nevada aufgrund seiner Silbervorkommen genannt wird, zählt nicht dazu. Anfang 2020 war es mal kurz anders, als Bernie Sanders hier, vor allem dank hispanischer Unterstützung, die Vorwahlen deutlich gewann und es eine sonderbare Woche lang so aussah, als könnte ein demokratischer Sozialist tatsächlich Präsident der Vereinigten Staaten werden. Wehmütig erinnern sich Linke zurück an jene Februartage kurz vor Pandemiebeginn. Abgesehen davon ist Nevada aber selten in den Schlagzeilen, zu selten wohl.

Im November 2020 gewann Präsident Joe Biden in Nevada mit knappem Vorsprung. Fünf der sechs Kongressmitglieder, die dem Bundesstaat zustehen, sind von der Demokratischen Partei, ebenso ein Grossteil des Parlaments und der Gouverneur Steve Sisolak. Nevada ist also in progressiver Hand. Doch das könnte sich bei den diesjährigen Midterms ändern. Fast alle der genannten Posten stehen zur Wahl. Ein Duell steht dabei unter besonderer Beobachtung, sodass in den nationalen Talkshows vom «Battleground Nevada» gesprochen wird: Es geht um die Senatorin Catherine Cortez Masto, die ihren Sitz gegen den republikanischen Herausforderer Adam Laxalt verteidigen muss.

 

 

Die 58-jährige Masto zog 2017 als erste Latina in der Geschichte der USA in den Senat ein. Sie steht ähnlich wie Biden für eine Reformpolitik, die sie auch bei Themen wie Umweltschutz oder Immigration einen fragwürdigen Mittelweg gehen lässt. Zur Priorität in diesem Wahlkampf hat sie den Schutz von Abtreibungsrechten gemacht.

Gegenkandidat Laxalt gehört zum Lager von Expräsident Donald Trump, das mit abgeklärter Vehemenz die Lüge verbreitet, dass den Republikaner:innen 2020 die Wahl gestohlen worden sei. Im laufenden Wahlkampf mixt Laxalt den Ruf nach streng bewachten Grenzen mit der Warnung vor steigender Kriminalität zu einem rassistischen Cocktail. Was er den hohen Energiepreisen, die er den Demokrat:innen zuschiebt, entgegensetzen will, ist unklar.

Eine liberale Kandidatin, die dem Partei-Establishment nahesteht, gegen einen rechtsextremen Verschwörungsanhänger – wie an so vielen Orten der USA ist das die Wahl. Und wie an so vielen Orten ist das Rennen laut Umfragen offen.

Sollte Masto verlieren, könnte die knappe demokratische Mehrheit im US-Senat verloren gehen. Reformprojekte wären dadurch noch schwerer durchzusetzen, als sie es jetzt schon sind. Nevada ist demnach entscheidend. Und zur Ironie des selbstverschuldeten Schicksals der Demokrat:innen gehört es, dass ausgerechnet die hispanischen Wähler:innen dafür sorgen könnten, dass Senatorin Masto scheitert. Ein Drittel von ihnen wählte zuletzt rot, also die Republikanische Partei.

Bellende Hunde, steigende Mieten

Scharfes Bellen, damit muss man rechnen. Die Gewerkschaftsaktivistin Adalila Camal Vargas zieht an einem brütend heissen Oktobernachmittag durch eine ärmere Nachbarschaft im Nordwesten von Las Vegas und beschäftigt erst mal nur die gelangweilten Hunde. Einige abgeklopfte Türen weiter hat sie Erfolg, ein älterer Mann mit Schnauzer und Brille tritt vor sein Häuschen: «Qué pasa?»

Camal Vargas erklärt auf Spanisch, was los ist, erzählt von den Kandidat:innen der Demokratischen Partei, spricht über den Neighborhood Stability Act, eine Gesetzesinitiative gegen steigende Mieten, die ihr am Herzen liegt. Der Mann findet das alles ganz gut, er steckt die Flyer ein und verspricht, den 8. November nicht zu vergessen.

«Gerade bei den Midterms kommt es auf jede Stimme an, da wählen ja nicht so viele», sagt Camal Vargas – Sonnenbrille, Cap, Pferdeschwanz –, während sie aufs nächste Haus zusteuert.

Adalila Camal Vargas war eine Teenagerin, als sie 1995 mit ihrer Mutter aus El Salvador in die USA kam. Durch den «Temporary Protected Status» ist sie zwar legal hier, darf aber nicht wählen, nur arbeiten, und das tut sie seit 21 Jahren im Hotel The Strat. Dieses gehört mit seinen 2400 Zimmern nicht mal zu den zehn grössten von Vegas, überragt dafür aber durch seinen 350 Meter grossen Aussichtsturm die Stadt. In ihrem Job als Kassierin an einer Bar wird Camal Vargas von der Culinary Workers Union vertreten. Mit der Gewerkschaft, das wird in den Gesprächen vor Ort deutlich, identifizieren sich progressive Nevadans wesentlich stärker als mit den Demokrat:innen. Wenn die Partei zur Mobilisierung aufruft, bleiben viele Plätze leer. Auch bei Camal Vargas ist die Beteiligung am Wahlkampf eher aus der Not geboren. Unter republikanischer Führung, das weiss sie, wird es wahrscheinlicher, dass sie ihren Aufenthaltsstatus verliert. Trump hatte es in seiner Amtszeit bereits versucht, scheiterte aber vor Gericht.

Je diverser das Land wird, desto besser für die Demokrat:innen, das war die jahrzehntelange Annahme der Partei. Es passt zu einer Reihe von Dingen, auf die sich die führenden Politiker:innen blind verlassen haben, Dinge, die als selbstverständlich galten, quasi wie die liberale Idee des Fortschritts. Als ausgemacht galt, dass das landesweite Abtreibungsrecht sicher ist, dass bestimmte Bundesstaaten zuverlässig blau wählen, dass Faschist:innen in den USA keine Chance haben. Und eben auch, dass die hispanischen Wähler:innen schon irgendwie bei den Demokrat:innen landen, auch wenn man dafür nicht wirklich etwas tut.

Von wegen «Tacos» und «Bogidas»

«Die Demokrat:innen haben unsere Unterstützung einfach vorausgesetzt», sagt Jessica Padrón, die für die Organisation Make the Road versucht, mehr Leute in die politischen Prozesse zu holen. Hie und da gebe es zwar Bemühungen, die Wähler:innen zu adressieren, so Padrón. Oft allerdings auf klägliche Weise. Im Sommer sprach First Lady Jill Biden bei einem Event davon, dass hispanische Communitys «so einzigartig wie Tacos» und die «Bogidas der Bronx» seien. Gemeint waren Bodegas, so werden die Bistrokioske in den USA genannt. Es mag nur ein Versprecher gewesen sein, aber symptomatisch für die Ignoranz. «Nicht alle Hispanics mögen Tacos und hören Mariachi-Musik», sagt Padrón, «wir kommen aus verschiedenen Ländern mit verschiedenen Kulturen.»

Die Ignoranz wurde zurückgeschleudert, als bei der letzten Präsidentschaftswahl 38 Prozent der hispanischen Wähler:innen für die Republikaner:innen stimmten. Vor allem junge Hispanics, die bislang nicht hatten wählen dürfen oder wollen, zog es zu Trump. Biden gewann zwar am Ende, in vielen Bundesstaaten allerdings knapp, und dort auch nur, weil progressive Gruppen und Gewerkschaften bei der Mobilisierung geholfen hatten. Viele Hispanics haben ihre Wahlregistrierung von demokratisch auf unabhängig gewechselt.

Wie erklären sich die Verschiebungen? Gerade weil es sich um keine Einheit handelt, sind pauschale Erklärungen mit Vorsicht zu geniessen. Ein junger Kubaner aus Florida hat andere Motive als eine ältere Mexikanerin in Kalifornien. Ein Grossteil ist pro Abtreibungsrechte, eine aktive Minderheit dagegen. Bemerkenswert ist, dass laut einer Umfrage der «New York Times» 41 Prozent der befragten Hispanics der Wirtschaftspolitik der Republikaner:innen zustimmen, gegenüber 43 Prozent für die Demokrat:innen. Bei keinem anderen Thema ist der Unterschied so gering. Da Hispanics überdurchschnittlich häufig kleine Geschäfte und Restaurants führen, war ein grosser Teil im ersten Covid-Jahr auch auf Trumps Seite, die Wirtschaft wieder zu öffnen. «Business» ist für viele Hispanics existenziell.

Gegen das Partei-Establishment

Was also kann man den Rechten, die ihrerseits gemerkt haben, dass sich die Mobilisierung von hispanischen Wähler:innen lohnt, entgegensetzen? Eine, die es wissen müsste, ist Judith Whitmer, die die Demokratische Partei in Nevada leitet. Die gelernte Ingenieurin kam durch den ersten Wahlkampf von Barack Obama in die Politik. 2016 war sie im Team Sanders und trat mit einer Gruppe von Aktivist:innen den Democratic Socialists of America bei, von denen manche jetzt ihre Kolleg:innen sind. Das ist beachtlich, denn damit ist Nevada der einzige Bundesstaat, in dem die Partei von Linken geführt wird.

Whitmer hat in ihr Büro geladen, ein karg eingerichteter Raum, was wohl daran liegt, dass sie seit ihrem Amtsantritt im Frühjahr 2021 nicht viel Zeit hatte. Als sich Whitmer gegen den Willen des Partei-Establishments durchsetzte, war von einem «Take-Over» und «Coup» die Rede. Sie mag solche Begriffe nicht. «Wir haben lange auf diesen Wechsel hingearbeitet», sagt sie, «er kam nicht über Nacht.»

Als regionale Parteichefin hat man in den USA nur bedingte Wirkungskraft – der Gouverneur, das Landesparlament, die Kongressmitglieder sind sowieso mächtiger. Dennoch ist es Whitmers Plan, die Partei von innen zu transformieren. Sie legt den Fokus auf «lokale Themen und Wahlkämpfe»; man dürfe «den ländlichen Norden Nevadas nicht vergessen», sagt sie. Basisarbeit also – klingt schlüssig. Kritisiert wird Whitmer aber auch von links, dafür, dass sie sich von moderaten Politiker:innen wie Senatorin Masto zwar inhaltlich distanziere, im laufenden Wahlkampf aber dennoch so tue, als hätten alle in der Partei das gleiche Ziel. Whitmer verweist auf die Langfristigkeit ihres Projekts, sie bittet um Geduld.

Geduld ist ein entscheidendes Stichwort in Nevada. Einerseits werden die Demokrat:innen viel davon brauchen, um unter den hispanischen Wähler:innen so etwas wie Vertrauen aufzubauen.

Andererseits ist es mit der Geduld so eine Sache, wenn der Gegner eine faschistoide Partei ist.

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