Ems-Chemie: Nazis auf der Lohnliste

Nr. 43 –

Die Ems-Chemie ist die Grundlage für den Reichtum der Familie Blocher. Die Historikerin Regula Bochsler durchleuchtet ein dunkles Kapitel des Weltkonzerns.

Experiment mit der Brandwaffe Opalm 1952 in der Schweiz
Experiment mit der Brandwaffe Opalm 1952 in der Schweiz: Die Hovag produzierte ihre ­Napalmvariante in Deutschland. Foto: BAR E5151A#1972/97#242*

Am 13. März 1956 stimmten die Schweizer Stimmbürger über das Schicksal einer Firma ab, die heute zu den erfolgreichsten des Landes zählt, damals aber unmittelbar vor dem Ruin zu stehen schien: Es ging um die Zukunft der Holzverzuckerungs AG im bündnerischen Domat/Ems. Sie war aus kriegswirtschaftlichen Gründen gebaut worden und stellte seit August 1944 einen Ersatztreibstoff her, das sogenannte Emser-Wasser.

Bund, Kanton und Gemeinden hatten viel Geld in dieses private Unternehmen investiert, das im strukturschwachen Kanton Graubünden rund tausend Arbeiter:innen beschäftigte. Elf Jahre nach dem Ende des Weltkriegs sollte 1956 die Subvention des Bundes ein letztes Mal verlängert werden: Der Bauernverband, die Waldwirtschaft und die Gewerkschaften kämpften dafür, doch die Stimmbürger lehnten ab.

Die Holzverzuckerungs AG, kurz Hovag, heisst heute Ems-Chemie. Sie ist die Grundlage des Reichtums der Familie von Christoph Blocher. Ihre Geschichte ist aus Studien, Zeitungsartikeln und TV-Filmen einigermassen bekannt. In einem soeben erschienenen Buch der Historikerin Regula Bochsler wird sie für die Zeit vor Blochers Eintritt 1969 noch einmal minutiös rekonstruiert und um einige Themen sowie zahlreiche Einzelheiten ergänzt.

590 Seiten umfasst das Werk von Bochsler, die keinen Zugang zum Firmenarchiv erhielt, aber ausserhalb der Firma umso gründlicher recherchierte und eine schier unglaubliche, auch etwas unübersichtliche Quellenfülle zusammengetragen hat. Leider stehen ihre Belege meist nur als spröde Archivsignaturen im Anhang des Buches. Oft fehlt eine kritische Diskussion der Quellen, die umso erwünschter wäre, je brisanter und deftiger die Aussagen sind.

Oswalds Nazibeziehungen

Vor Christoph Blocher gehörte die Hovag einer Familie Oswald aus dem Luzernischen, die mit geschätzten 170 Millionen Franken an öffentlichen Zuschüssen für das Holzverzuckern einen undurchsichtigen Konzern aufbaute. Die Lizenz für die Umwandlung von Holz in Sprit hatten die Oswalds im nationalsozialistischen Deutschland besorgt. Als 1945 das Ende des «Emser Wassers» absehbar wurde – die Produktion lief mit staatlicher Unterstützung weiter –, bezogen sie noch einmal Know-how aus Deutschland, jetzt aus den Trümmern des Chemiegiganten IG-Farben. Man holte deutsche Chemiefachleute ins Land; es waren Nationalsozialisten, sie brachten Pläne für chemische Produktionsprozesse mit.

Auch im Schweizer Machtapparat pflegten die Oswalds exquisite Beziehungen, etwa zu einem hohen Offizier des Nachrichtendiensts, der Naziwissenschaftler auf der Flucht nach Argentinien unterstützte, nicht ohne ihnen zuvor ein paar fachliche Geheimnisse abzuknöpfen und sofort nach Ems weiterzuleiten. Oder zum einstigen Arbeiter:innenführer Robert Grimm, der von 1943 bis 1953 eine vom Bund eingesetzte Überwachungskommission der Hovag präsidierte und sich in dieser Rolle unter anderem für die Bewilligung eines nationalsozialistischen «Wehrwirtschaftsführers» als Berater der Oswalds einsetzte.

Dank der Nazis ist die Hovag Anfang der 1950er Jahre imstande, die Produktion von synthetischen Textilfasern zu lancieren: nicht das US-amerikanische Nylon, nicht das reichsdeutsche Perlon, sondern ein angeblich bündnerisches Grilon – chemisch jedoch mit Perlon identisch. Schwer belastete NSDAP-Mitglieder, SA- oder SS-Leute, sogar ein in Nürnberg verurteilter Kriegsverbrecher stehen auf der Lohnliste der Oswalds. Ebenfalls gute Beziehungen unterhält man ins faschistische Spanien, wo ein Oswald-Bruder den Umgang mit General Franco pflegt, später dann zu Militärregimen in Ägypten, Burma, Indonesien und so weiter.

Hovag schiebt falsche Zahlen vor

Eine der Neuigkeiten, die Bochsler in den Akten gefunden hat, ist das schweizerische Napalm. Die Hovag produzierte es unter dem Namen Opalm nicht in Ems, sondern in Deutschland, weil von dort aus der Export in Kriegsgebiete leichter war. Bochsler zeigt, wie dieses Opalm eingesetzt wurde: in Osttimor, im Jemen gegen Zivilpersonen, die an Verbrennungen starben oder erstickten. Andere Rüstungsgüter der Firma sind Flüssigstoffraketen nach Plänen aus dem KZ-Labor Peenemünde, chemische Zünder und Personenminen. Solche Zünder, wie man sie für Minen braucht, werden nach dem Kalten Krieg in die Airbags von Autos eingebaut. Eine Zeit lang ist Ems europaweit führend bei Airbagzündern.

1956 allerdings steht die Holzverzuckerungsanstalt vor dem Ruin. Die ganze Schweiz glaubt das. Trotzdem stimmen die Schweizer Männer – gegen den Willen von Bauernverband, Waldwirtschaft und Gewerkschaftsbund – für ein Ende der millionenschweren Subventionierung. Statt den Betrieb nun wie angedroht zu schliessen, erholt sich die Hovag rasch, und es scheint klar: Gegenüber den subventionierenden Behörden wurde mit falschen Zahlen operiert. Die Firma ist rentabler als dargestellt, die Subventionen waren abgezockt. Während die alten Nazis unbehelligt ins wiederaufgebaute Deutschland zurückkehren dürfen, steht der Ems-Chemie eine glänzende Zukunft bevor.

Buchcover von «Nylon und Napalm»

Regula Bochsler: «Nylon und Napalm. Die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald». Herausgegeben vom Institut für Kulturforschung Graubünden. Hier und Jetzt Verlag. Zürich 2022.