Leser:innenbriefe

Nr. 44 –

Die Macht der Dinge

«Bruno Latour (1947–2022): Verführerische Netzwerke», WOZ Nr. 41/22

Wer sich fragt, warum Menschen von Konsumgütern verführt werden, findet bei Bruno Latour Antworten. Menschen kaufen und werfen Sachen weg, ohne sich viele Gedanken darüber zu machen. Wir lassen uns von Dingen verführen, nicht nur von Netzwerken. Der Glaube, die technologischen Gerätschaften könnten unsere Erde retten, gleicht dem Glauben an Talisman und Amulette. Wir sind nie modern gewesen – damit meint Latour, dass die aufgeklärte Menschheit genauso abergläubisch ist wie unsere Vorfahren oder die Waldvölker in den letzten Reservaten. Die Wissenschaft, so Latour, lasse glauben, alles sei funktional und rational. Wir glaubten, selbstgesteuert und autonom zu handeln und zu entscheiden. Dabei bewegen uns technische Geräte und Einrichtungen zu Schritten, die wir gar nicht wahrnehmen. Das merken wir erst, wenn eine Panne auftritt. Fällt der Strom aus, erkennen wir, wie abhängig wir von den Gerätschaften des Alltags sind, ja von ihnen gesteuert. Diese Abhängigkeit zwingt uns zu einem Verhalten, das unsere Lebensgrundlagen zerstört.

Mit Latour denken heisst einen neuen Weg zu uns und unserer Umgebung finden. Betrachtet frau, welch hitzige Debatten Bilder und Denkmäler auslösen, lässt sich erahnen, wie gross die Handlungsmacht sein muss, die wir ihnen zuschreiben. Was würde geschehen, wenn alle Männer von den Sockeln gerissen würden, alle Strassen Frauennamen erhielten? Dann zeigte sich die Macht der Dinge, denen wir fälschlicherweise nur zugestehen, sie erleichterten unser Leben. Weit gefehlt, sie treiben uns vor sich her. Mit Latour denken heisst Mächte erkennen, die wir nicht sehen wollen.

Latour sollte endlich rezipiert werden, und eine starke öffentliche Debatte sollte entfacht werden.

Otto Georg Tschuor, Seewil

Renovate? Reduce!

«Renovate Switzerland: Experimente in zivilem Widerstand», WOZ Nr. 42/22

Im Artikel beschreibt der Redaktor die Aktionen von Renovate Switzerland. Er vergleicht die gewaltfreien Aktionen der Gruppe mit dem Rivella-Logo mit denjenigen der Letzten Generation in Deutschland oder von Just Stop Oil in Grossbritannien.

Die Forderungen nach einem Tempolimit in Deutschland oder das Einstellen der Pläne von Öl- und Gasförderung sind zentrale Forderungen, um das Problem Klimawandel an der Wurzel zu packen. Renovate Switzerland hingegen positioniert sich mit der Forderung, dass vier Milliarden Franken für Weiterbildung in der Gebäudesanierung zur Verfügung gestellt werden sollen. Wie bitte? Sehr schweizerisch ist die Idee, dass Probleme dadurch gelöst werden können, wenn man nur genug Geld darauf «auskippt».

Genau an dieser Stelle sollte guter Journalismus nachfragen lernen, denn jede Gebäudesanierung produziert eine Menge grauer Energie. Es gibt sehr viele andere Dinge in der Schweiz, die nach dem Motto «reduce, reuse, recycle» einen echten Schritt zur Reduktion von Klimakillern gehen könnten. Angefangen bei innereuropäischen Flügen bis hin zur klimaschädlichen Investitionspolitik des Bankensektors. Bitte fragt also mal nach, wieso Renovate Switzerland einen so engen Schulterschluss mit der Baubranche eingeht.

Die Klimakrise werden wir nicht dadurch in den Griff bekommen, dass wir Menschen zum Thema Gebäudesanierung weiterbilden. So schön das auch wäre.

Ilja Gerhardt, per E-Mail

Stilfrage

«Massenkultur: Seid ihr alle da?», WOZ Nr. 41/22

Der Autor stellt am Anfang seines Textes den britischen Popsänger Harry Styles vor, der zuweilen Kleidung trägt, die traditionell Frauen zugeschrieben wird. Oder, um es mit dem Autor zu sagen, «der gern im Fummel […] durch Videos und Arenen läuft». Nun definiert der Duden «Fummel» wie folgt: «Kleidungsstück [aus billigem und leichtem Stoff]». Das macht stutzig. Denn bereits eine oberflächliche Bildrecherche zeigt ja, dass Harry Styles gern teure Marken (Arturo Obegero, Harris Reed, Gucci …) trägt, die aus eher hochwertigen Stoffen geschneidert werden.

Also wird der Autor den Begriff aus einem anderen Grund verwendet haben. Auch hier hilft der Duden weiter: «Gebrauch: umgangssprachlich, oft abwertend». Ja, das leuchtet dann schon mehr ein. Denn ist ein «Mann in Frauenkleidung» nicht per se lächerlich und damit der Abwertung preiszugeben? Nein? Aber wenn der Autor weder schlecht recherchiert hat noch den queerfeindlichen Mainstream bedienen will, über den er so geistreich schreibt, was dann? Bestimmt gibt es noch eine dritte Möglichkeit, das Wort «Fummel» zu verwenden, die uns der Duden bislang vorenthält. Bin gespannt auf seine Antwort.

Arne Scheuermann, Bern