Literatur: Mord und Mystery im Speckgürtel

Nr. 44 –

Im Roman «Der Boulevard des Schreckens» schickt der Satiriker Moritz Hürtgen einen aufschneiderischen Nachwuchsreporter auf einen irren Trip durch Bayern.

Wer nach oben will, darf keine falsche Zurückhaltung an den Tag legen – die Konkurrenz auf der Karriereleiter schläft nicht. So weiss es die Ratgeberliteratur, und so hält es auch Martin Kreutzer in «Der Boulevard des Schreckens», dem Romandebüt des Satirikers Moritz Hürtgens. Kreutzer ist Volontär bei einer überregionalen Berliner Tageszeitung, als sich ihm eine unerwartete Chance bietet: Seine Ressortleiterin nimmt ihn ausnahmsweise mit an die «grosse Konferenz», wo die höhere Hierarchiestufe munter rumkokst und nebenbei über einen Lukas Moretti herzieht. Der aufstrebende deutsche Künstler wird mittlerweile selbst international gefeiert, verweigert aber dem rechtskonservativen Blatt, bei dem Kreutzer untergekommen ist, trotz grosser Auflage ein Gespräch. Die Chance für den Jungreporter, der sich ungefragt zu Wort meldet: «Ich bekomm ein Interview mit Moretti, ich kenne ihn persönlich vom Studium.»

Der benebelte Chefredaktor ist begeistert und beordert Kreutzer flugs nach München, wo der Künstler gerade eine Performance vorbereitet. Dumm nur, dass der ehrgeizige Volontär mit dem Promi an der Uni allenfalls flüchtig zu tun hatte. Klar also, dass diese Geschichte schiefgehen muss. Wie desaströs aber das Abenteuer des Nachwuchsjournalisten enden wird, ist da noch nicht einmal ansatzweise zu erahnen.

Es stapeln sich die Leichen

Kreutzers Geschichte ist nicht nur die des chronisch Zukurzgekommenen: grosse Ambitionen, aber nix dahinter. Vielmehr nimmt das, was wie eine im Medien- und Kunstmilieu spielende Aufschneiderstory anhebt, halsbrecherische Wendungen. Bald schon stapeln sich die Leichen, sodass man mit dem Zählen gar nicht mehr mitkommt und sich fragt, was für Abgründe sich im Kopf eines Autors auftun, der ein so irrwitziges Buch schreibt.

Zu dessen Finale wird Kreutzer tatsächlich in einer Festanstellung landen, allerdings beim Boulevardblatt desselben Verlags (bei dem man wohl an den deutschen Springer-Konzern denken soll), wo man seit jeher auch den furchtbarsten Ereignissen nachgeht, «ganz ohne Wenn und Aber». Bis dahin ists aber noch ein langer Leidensweg. Nachdem nun Kreutzers Versuche, sich in einem hippen Münchner Kunstclub an Moretti heranzuwanzen, wie erwartet verpufft sind, schliesst sich der Journalist panisch in sein Hotelzimmer ein, um das verheissene Interview einfach zu fingieren. Nach einer durchgeackerten Nacht ist die Fälschung bei den Chefs, inzwischen aber auch der Künstler tot: Moretti ist in einem Münchner Vorort aus unerfindlichen Gründen auf die Gleise spaziert und wurde dort, wie Hürtgen lapidar referiert, «von der letzten S-Bahn stadtauswärts seitlich erfasst und mit grosser Wucht über das andere Gleis hinweg in einen Busch geschleudert».

Hürtgens Held macht sich also auf nach Kirching im Speckgürtel der süddeutschen Metropole. Das ist zwar ein Kaff, aber gross genug, um in zwei verfeindete Ortsteile gespalten zu sein: Während es bei den traditionsbewussten Altkirchinger:innen, bei denen Kreutzer in einem schaurigen Gasthof unterkommt, gesittet zugeht, gilt diesen Neukirching als Zentrum des blutrünstigen Islamismus, schliesslich wohnen dort unerwünscht viele Zugewanderte. Viel Zeit, sich mit diesen Konflikten zu beschäftigen, bleibt Kreutzer aber nicht, denn schon kurz nach seiner Ankunft werden weitere Tote gefunden.

Volkstribun in Zehenschuhen

Kreutzers Albtraum nimmt jetzt erst richtig seinen Lauf. Zwar übersteuert der Plot nun zunehmend, sprachlich aber hält sich Hürtgen zum Glück zurück: Statt sich in forcierten Klamauk zu flüchten, erzählt er eher nüchtern, im Vertrauen auf die Komik der immer schaurigeren Situationen, in die er seinen Protagonisten hineinschreibt. Bisweilen sind die derart makaber, dass es hart an die Grenze des guten Geschmacks geht. Es folgen jedenfalls: ein mutmasslicher Suizid zweier Kirchinger Forellenzüchter samt tausendfach verkohlter Tiere sowie ein Blutbad beim Sonnwendfest der Dorfgemeinde. Zwischendurch wird Kreutzer von einem grusligen Zwillingspaar aus der Entourage des toten Künstlers heimgesucht, er bekommt es mit einer protofaschistischen Bürgerwehr unter Führung eines Bloggers in Funktionsjacke und Zehenschuhen zu tun und landet schliesslich im Bett mit einer Frau namens Fanny, die kurz zuvor brutal von einem Feuerwehrauto überfahren wurde.

Was das alles soll? Gute Frage. Hürtgens Buch ist ein bisschen Medien- und Politsatire und ein bisschen Kleinstadthorror à la Stephen King, letztlich aber wohl vor allem eine Verbeugung vor dem Vermögen der Dichtkunst, mit Worten die Welt gänzlich aus den Angeln zu heben. Im Guten wie im Schlechten. Am Ende des furiosen Trips ist man sich jedenfalls nicht einmal mehr sicher, ob sein Protagonist wirklich nur ein grossspuriger Zeitungsvolontär ist oder nicht doch eher eine Art verschrullter Voodoopriester.

Hürtgen hat übrigens gerade den Posten des «Titanic»-Chefs aufgegeben; mit seiner Kollegin Julia Mateus übernimmt bei der Satirezeitschrift erstmals eine Frau. Damit dürfte er ja nun mehr Zeit zum Romaneschreiben haben, was definitiv eine gute Nachricht ist.

Buchcover von «Der Boulevard des Schreckens»

Moritz Hürtgen: «Der Boulevard des Schreckens». Verlag Antje Kunstmann. München 2022. 304 Seiten. 35 Franken.