Sprayerinnen im Iran: Die schwarzen Geister von Teheran

Nr. 46 –

Eine Gruppe von Frauen bemalt die Wände der iranischen Hauptstadt mit politischen Slogans. Jede Nacht erobern sie sich mit den Graffiti einen Teil ihrer Strassen zurück. Tagsüber werden sie wieder übermalt.

Graffiti Im Teheraner Stadtteil Nasi Abad
«Ihr löscht es aus, ich werde es wieder schreiben. Übrigens, wie löscht ihr Blut aus?»: Im Teheraner Stadtteil Nasi Abad.

«Ich habe irgendwo gelesen, dass die Wände immer die ersten sind, die sich einer Revolution anschliessen, und …», sagt sie. Dann wird ihre Internetverbindung unterbrochen. Als sie wieder zurück ist, seufzt sie zweimal und beendet dann ihren Satz: «… wir beschreiben diese Wände: Wir schliessen uns den Menschen an, wir machen eine Revolution im Iran.» Ihre gedämpfte Stimme erreicht mich aus Teheran per Videoanruf, ihre Kamera ist ausgeschaltet.

Als ich zum ersten Mal mit ihr spreche, sind 51 Tage vergangen, seit Mahsa «Zhina» Amini hinter den verschlossenen Türen von Sachteman-e-Vosara, dem Zentrum der sogenannten Sittenpolizei in Teheran, ermordet wurde. Seither hat es keinen Tag im Iran ohne Schmerz, Protest und Blutvergiessen gegeben.

«Es gab eine Explosion aus Stimmen, Tränengas, Schlagstöcken und Träumen.»
R, Sprayerin

Als ich zum ersten Mal mit ihr spreche, ist es im Iran zwei Uhr nachts, und sie ist gerade wieder heimgekommen, nachdem sie die Parole «Frau. Leben. Freiheit» auf eine der vielen Wände ihrer Heimatstadt geschrieben hat. Ich führe ein Interview mit ihr. Ich führe ein Interview mit den Wänden Teherans. Ich führe ein Interview mit der Revolution.

Wer ist sie? Ich bespreche mit ihr, dass wir uns einen Namen für sie ausdenken müssen, schlage «Omid» vor. Das bedeutet «Hoffnung» auf Farsi. Aber sie lehnt den Vorschlag entschieden ab: «Omid ist ein männlicher Name», sagt sie, und wir lachen darüber, dass auf Farsi die Hoffnung ein männlicher Begriff ist, während «Roya», der Traum, noch immer uns Frauen gehört. Ich werde sie fortan R nennen. R ist eine Frau Ende zwanzig, die nachts die Mauern der Stadt bemalt, um sich damit gegen die Mauern des Regimes aufzulehnen, die ihre Träume umschliessen und einsperren.

Zigaretten und Essig

Die Geschichte von R beginnt wie die Geschichte so vieler anderer Rs im Iran: «Ich war nie eine politische Aktivistin», sagt sie. Aber als Mahsa «Zhina» Amini starb, sei es ihr Körper gewesen, ihr gewöhnlicher weiblicher Körper, der sie auf die Strasse getragen habe: «Mein Körper, der vom Staat immer so behandelt worden ist, als ob die Kontrolle darüber nicht mir selbst zustehen würde.»

R erzählt, wie sie am Abend des 16. September, als Aminis Tod die iranische Zeitgeschichte in ein Davor und ein Danach zweiteilte, in den nächstgelegenen Supermarkt ging, um sich eine Packung Zigaretten zu kaufen. Sie hatte vier Monate zuvor aufgehört zu rauchen, doch jetzt zündete sie sich eine nach der anderen an, wischte sich immer wieder ihre Tränen ab, lief bis Mitternacht in endlosen Kreisen durch ihr Wohnzimmer und dachte: «Wir müssen etwas tun. Wir müssen etwas gegen diese alte, angestaute Wut tun.»

Graffiti auf dem Spiegel eines WCs in der Kunstuniversität von Teheran
«Das ist das Gesicht einer Person, die einen Unterschied machen kann»: In der Kunstuniversität von Teheran.

Dann tat sie, was so viele andere Frauen ebenfalls taten: Sie zog sich eine grosse Bluse über, die nicht verrutschen konnte – ganz schwarz, um in der Menge nicht aufzufallen. In ihre Taschen steckte sie eine Schachtel Zigaretten, eine kleine Flasche Essig, was gegen Tränengas helfen sollte, und ein paar Steine aus ihren Blumentöpfen. Schliesslich band sie sich die Haare mit einem Haargummi zusammen, setzte ihr Kopftuch auf und ging auf die Hedschab-Strasse hinaus, um zu protestieren.

Rs Erzählung wird erneut unterbrochen, die Internetverbindung ist schlecht. Ich stelle meine Fragen, sie hört zwar mich, ich sie aber nicht. Also tippt sie ihre Antworten in die Chatbox. Ich schreibe sie ab, bevor sie sie wieder löscht, um möglichst wenig digitale Spuren zu hinterlassen. «Am ersten Tag hatten wir noch keine Ahnung, was jetzt passieren würde», schreibt R. «Wir wussten nur, dass wir mit der Polizei zusammenstossen würden.» Wie viele Polizisten dann tatsächlich im Einsatz waren, habe sie aber doch schockiert: «Sie standen in Reihen, alle bewaffnet, alle in Schwarz gekleidet.»

Dann beschreibt sie den ersten Protestabend: Bis er richtig in die Gänge kam, hat es zunächst einige Minuten gedauert. Die Menschen standen in kleinen Gruppen beieinander – und haben gewartet. Bis eine junge Frau plötzlich gerufen hat: «Frau. Leben. Freiheit». Woraufhin die Stimmung kippte und die Menschen in den Protestgesang einstimmten: «Es gab eine Explosion aus Worten, Stimmen, Tränengas, Schlagstöcken und Träumen», erzählt R. Sie erinnere sich nur noch an Momentaufnahmen: daran, dass sie jemand an ihrem Rucksack gepackt und zu Boden gerissen habe. Daran, dass die Menschen irgendwann losgerannt seien, die Menschenmasse immer grösser und grösser geworden sei. Und daran, wie sich die Menschen irgendwann zusammengedrängt, einander an den Händen gehalten – und vor die Polizisten gestellt hätten.

Was für eine schöne, weisse Wand!

Nachdem diese ersten Tage der Revolution vorübergegangen waren, fing R an, die Wände Teherans zu bemalen. Ihre Knie hätten vom vielen Laufen und Fallen an den Kundgebungen geschmerzt, erzählt sie. «Aber wenn uns unsere Füsse nicht mehr weit tragen, müssen wir eben mit unseren Händen arbeiten.» Sie kontaktierte ihre Freundinnen und stellte eine Truppe von vier Frauen zusammen: alle schwarz gekleidet, die Haare zusammengebunden, Steine in den Taschen, Zigaretten und Essig im Rucksack und eine Sprühdose in den Händen.

«Wir sind die schwarzen Geister der Stadt», sagt R. So nennt sich die Frauengruppe, die nachts durch die Strassen der Hauptstadt zieht. Auf der Suche nach einer geeigneten Wand, die nicht von verstohlen hinter zugezogenen Vorhängen hervorblickenden Augen beobachtet wird. Ist die Suche erfolgreich, stehen zwei der vier schwarzen Geister an den Enden der Strasse Wache. Ein Geist bemalt die Wand, der vierte macht Fotos. Dann rauschen sie in der Dunkelheit der Nacht davon.

Das Wichtigste sei es, die Strassen und Mauern nicht an «sie» zu verlieren, sagt R, und sie meint damit das iranische Regime. So entsteht ein endloses «Spiel», wie R das nennt. Immer wieder malen die Revolutionärinnen ihre Parolen an die Wände, immer wieder werden sie übermalt. Sie nennt ein Beispiel: «Es war Mitte Oktober, fast um Mitternacht, wir waren seit Stunden unterwegs.» Dann sei ihnen eine grosse Mauer in der Nähe des Kurdistan Expressway, einer Schnellstrasse, aufgefallen. «Was für ein Ort! Was für ein Name!», hätten sie sich gedacht. Die Wand sei weiss gewesen: sauber, poliert und leer, offensichtlich erst kürzlich vom Regime übermalt. In riesigen Buchstaben, erzählt R, habe sie darauf geschrieben: «Die Tyrannei wird nicht überleben.» Am nächsten Tag gegen Mittag fuhr sie wieder in das Viertel, um sich die Wand anzusehen. Der Slogan war schon wieder weggeputzt, die Buchstaben aber noch sichtbar.

Eine Woche später sei sie dann nochmals zufällig denselben Weg entlanggegangen, und die Wand sei wieder voller Protestschriftzüge gewesen, erzählt R. Ob sie die Wand auch selbst noch einmal bemalen werde, frage ich sie. «Natürlich», antwortet R. «Wir warten darauf, bis sie zum nächsten Mal vom Regime übermalt wird, dann gehen wir wieder hin.» Sie weiss auch schon, was sie dann schreiben wird: «Begard ta begardim.» Du kannst meinen Händen nicht entkommen.

Im Austausch miteinander

Am dritten Tag, an dem ich R erreiche, um mit ihr über die schwarzen Geister der Stadt zu sprechen, kann ich ihre Stimme wieder hören, aber ihre Kamera hat sie immer noch nicht eingeschaltet: Ihr Gesicht sehe ich nicht. Sie ist gerade heimgekommen: von einem Protest und von einer Nacht auf der Strasse, wo sie wieder eine Parole an eine Mauer gemalt hat. Sie tut jetzt beides: Sie sprayt, und sie demonstriert. «Auf der Strasse vereinen wir unsere Stimmen, aber an den Wänden sprechen wir miteinander», sagt R.

Die Hauswände seien der geheime Treffpunkt der Protestierenden: «Oft ist eine Parole, die jemand anderes hingesprayt hat, noch zu lesen, nachdem sie von Regimebefürworter:innen mit silbernem oder schwarzem Spray durchgestrichen oder mit weisser Farbe übermalt wurde», erzählt R. «Dann nehmen wir mit unserer neuen Parole Bezug darauf und stellen so eine Verbindung zu den anderen Sprayer:innen her.» So würden sie sich nachts die Strassen und Mauern wieder aneignen, die das Regime ihnen entrissen habe.

Zum Schluss unserer Gespräche bitte ich R darum, mir ihr Gesicht zu zeigen. Sie willigt ein, stellt ihre Kamera an, und ich sehe ein lächelndes Gesicht mit zwei grünen Augen, die mich direkt ansehen. Dann wird die Internetverbindung langsamer, ihr Lächeln friert ein. Sie schreibt in den Chat «Chodafes»: auf Wiedersehen. Nachdem sie weg ist, sehe ich mir noch lange ihr erstarrtes, verpixeltes und trügerisches Lächeln an.

Aus dem Englischen von Nathalie Schmidhauser.

Niloofar Rasooli

Die iranische Historikerin und Journalistin Niloofar Rasooli (30) arbeitete von 2019 bis 2021 für die Teheraner Zeitung «Etemad Daily», wo sie vorwiegend über Frauen und soziale Ungleichheit schrieb. Daneben war sie als Redaktorin und Übersetzerin für diverse iranische Architekturzeitschriften tätig.

2021 zog Rasooli nach Zürich. Sie ist Stipendiatin des Doktorandenprogramms am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich.