Auf allen Kanälen: #RIPTwitter?

Nr. 47 –

Unter Elon Musk versinkt der Mikrobloggingdienst im Chaos. Das lässt selbst Dystopisches denkbar erscheinen.

Illustration: Twitter-Logo in Einzelteile zerlegt

Nach wie vor gilt: Twitter kann sehr unterhaltsam sein – der Kurznachrichtendienst zehrte ja immer schon vom Witz seiner User:innen. Ende vergangener Woche trendete der Hashtag #RIPTwitter: Angesichts des immensen personellen Aderlasses unter Neueigentümer Elon Musk mehrten sich Stimmen, die den Zusammenbruch des Netzwerks prognostizierten. Andere übten sich derweil in Spott. Der US-Journalist Dan Rather etwa schrieb: «Ich erinnere mich an das alte Sprichwort: Es ist besser, für einen Idioten gehalten zu werden, als Twitter zu kaufen und alle Zweifel daran zu beseitigen.»

Die Nachrufe kamen allerdings verfrüht. Musk erwiderte die Abgesänge mit dem Hinweis, dass diese eben vor allem auf Twitter zu lesen seien. Tatsächlich verschafft seine chaotische Unternehmensführung Twitter Aufmerksamkeit, was auch das Kalkül sein dürfte. Teilweise scheint die Rechnung aufzugehen: Der «Financial Times» zufolge verzeichnen auch unabhängige Analyst:innen derzeit einen Zuwachs an Twitter-Neuanmeldungen. Andererseits zog sich bereits eine Reihe wichtiger Werbekunden von dem Dienst zurück.

Preiswürdige Misswirtschaft

Daher ist es schwierig einzuschätzen, ob Twitter wirklich kollabieren könnte – sei es aus technischen oder aus finanziellen Gründen. Bemerkenswert ist jedoch, dass nicht nur linke Musk-Kritiker:innen den Zusammenbruch an die Wand malen, sondern auch Milliardär:innen prinzipiell wohlgesonnene Medien. So befand das Wirtschaftsmagazin «Forbes», dass Musk einen Preis dafür verdiene, «ein Unternehmen von der Grösse Twitters in Rekordzeit herunterzuwirtschaften». Im «Guardian» taxierte derweil ein ehemaliger Twitter-Mitarbeiter, der beim Unternehmen für die technische Wartung zuständig war, die Chance, dass der Dienst während der Fussballweltmeisterschaft in Katar crashen könnte, auf fünfzig Prozent – Grossereignisse seien für das Netzwerk seit jeher ein Stresstest, was erst recht gelte, nachdem der Dienst einen Grossteil seiner früheren Mitarbeiter:innen verloren habe.

Wegen des radikalen Stellenabbaus häuften sich auch Warnungen, dass Nutzer:innendaten im Fall von Hackerangriffen nur noch unzureichend geschützt seien. Zudem rief Musks Entscheid, das gesamte für Menschenrechtsfragen zuständige Team zu entlassen, Empörung bei Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch hervor. Die Abteilung sollte bislang sicherstellen, dass Leute, denen für ihre Posts politische Verfolgung droht, möglichst geschützt sind. Ob das nun bei einem Unternehmen, das nicht einmal mehr eine Presseabteilung hat, noch gewährleistet ist?

Was passiert im Extremfall?

Die Massenentlassungen gerade im Bereich Menschenrechte lassen selbst dystopische Szenarien denkbar erscheinen. So betonte ein IT-Experte mit dem Twitter-Account «Mosquito Capital», dass ein Social-Media-Dienst von der Grösse Twitters zwingend auch auf Extremsituationen vorbereitet sein müsste – etwa wenn in einem Land politische Kräfte versuchten, die Plattform zu missbrauchen, um einen Staatsstreich oder gar einen Genozid zu orchestrieren. Das mögen Ausnahmefälle sein, gänzlich auszuschliessen sind diese aber nicht, zumal auch der frühere US-Präsident Donald Trump Twitter dazu genutzt hatte, seine Fans zu einem Putschversuch anzustacheln.

Trumps deswegen suspendiertes Konto hat Musk wieder entsperren lassen. Auch der Musiker Kanye «Ye» West, der zuletzt antisemitische Tiraden gepostet hatte, darf wieder twittern. Der rechtslibertäre Milliardär Musk geriert sich also nach wie vor als Free-Speech-Absolutist. Vermutlich verfolgen seine Versuche, Twitter verstärkt zu einem kostenpflichtigen Dienst umzumodeln, auch den Zweck, die Plattform unabhängiger von den Werbekunden zu machen.

Letztlich aber hält die Community den mächtigsten Hebel in der Hand, wie der britische Datenrechtler Jim Killock betonte: Sollte sich die bereits zu beobachtende Absatzbewegung der relativ kleinen Gruppe derer fortsetzen, die den Grossteil des interessanten Contents produzieren, könnte der Plattform auch ohne plötzlichen Crash ein Abgleiten in die Irrelevanz bevorstehen.

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Kommentare

Kommentar von Igarulo

Mo., 28.11.2022 - 17:59

Twittern macht süchtig. Vor allem Politikerinnen. Und Journalistinnen. Weil da liegt der Stoff aus dem die Klicks Medien&Konzerne beflügeln. Zeitnah und aufmerksamsökonomisch. Twitter ist das Kind der Renditeoptimierung als Akutkrebs im Fleisch der Aktualität. Das wird gegrillt auf Teufel komm raus, bis er wahrhaftig die Kohle glüht und Landschaften verdorren drum in der Hitze des Profits. Twitter entkommt der bieder Arbeitsame nicht; der Sucht aber schon.

Kommentar von dhackbarth

Di., 29.11.2022 - 16:28

Twitter will ja auch Geld verdienen damit, dass wir möglichst lange dort festhängen bleiben. Zum Entzug bietet sich vielleicht Mastodon an, wo kein Algorithmus im Sekundentakt versucht, Endorphine sprühen zu lassen (wir sind auch dort: @woz@troet.cafe)