Krieg gegen die Ukraine: Nur das Brummen der Generatoren

Nr. 48 –

Seit bald zwei Monaten zerstört die russische Armee systematisch die ukrainische Energieversorgung – und terrorisiert damit die Bevölkerung. Aufgeben ist für die Menschen in Kyjiw aber keine Option. Streifzug durch eine geplagte Metropole.

Blackout in Kyjiw am 24. November
Blackout in Kyjiw am 24. November. Zwar schwärmen nach jedem Luftangriff Ar­beiter:in­nen aus, um die zerstörten Leitungen zu reparieren, doch Ersatzteile sind immer schwieriger zu bekommen. Foto: Zinchenko, Getty

Kurz ruckelt und pfeift es, dann steht die Lokomotive still. Diverse Versuche, die nach Wladimir Lenin benannte «WL80» wieder in Bewegung zu setzen, scheitern, der Motor macht keinen Wank. Der Himmel ist grau, die Bahngleise mit Schnee bedeckt, rundherum verdeckt ein Waldstück die Sicht auf die Umgebung irgendwo am Stadtrand von Kyjiw.

Dem Stromausfall, der die Lok zum Erliegen bringt, ist ein Luftalarm vorangegangen, in der ukrainischen Hauptstadt ist es der erste seit mehreren Tagen. Rund eine Viertelstunde nachdem eine Frauenstimme die App-Nutzerin vergeblich zum Aufsuchen des nächsten Bunkers aufgefordert hat, schlagen in Kyjiw und Umgebung Raketen ein, treffen unter anderem ein Wohnhaus. Mindestens zehn Menschen sterben, Dutzende werden verletzt. Nach Angaben des ukrainischen Militärs feuert die russische Armee an diesem Mittwoch Ende November über siebzig Geschosse auf das ganze Land ab, über zwei Drittel können offenbar abgefangen werden.

Der Stillstand auf den Schienen bereitet der Fahrt, zu der Eisenbahngewerkschafter Aleksandr Skyba eingeladen hatte, ein jähes Ende. Während die Lok zuvor noch gemütlich durch die Gegend getuckert war, hatten Skyba und die beiden anderen Lokführer von ihren Arbeitsbedingungen berichtet: Weil immer weniger Güterzüge unterwegs sind und die Lokführer:innen pro Fahrt bezahlt werden, erleiden sie empfindliche Lohneinbussen, die niemand kompensiert. Nach neun Monaten Krieg liegt die Wirtschaft am Boden.

Nach dem Raketenangriff funktionieren das Internet und das Handynetz kaum noch, sodass Lokführer Andrei seine Frau nicht erreichen kann. Auch der Versuch, im Bahndepot Anweisungen zu erhalten, bleibt erfolglos. «Wenn wir im Dienst sind, können wir unseren Posten auch bei Luftalarm oder Raketeneinschlag nicht verlassen, müssen weiterarbeiten», erzählt der freundliche Mann mittleren Alters, der seinen Nachnamen nicht nennen will. «Ich finde es jedes Mal aufs Neue beängstigend.»

Millionen in Dunkelheit

Seit bald zwei Monaten beschiesst die russische Armee gezielt die kritische Infrastruktur des Nachbarlands mit Raketen und setzt auch Kampfdrohnen ein. Die systematische Zerstörung der Kraft- und Umspannwerke soll die Energieversorgung zum Erliegen bringen – und die Ukrainer:innen zermürben, um die Regierung von Präsident Wolodimir Selenski an den Verhandlungstisch zu zwingen. Weil das Stromnetz noch aus der Sowjetzeit stammt und in Moskau wohl die entsprechenden Pläne vorhanden sind, scheinen die Militärs genau zu wissen, wo sie angreifen müssen, um den grösstmöglichen Schaden zu verursachen. Die Attacke von letzter Woche hat dabei die bisher weitreichendsten Folgen: ein ganzes Land im Blackout, viele Millionen Menschen stundenlang in vollständiger Dunkelheit. Satellitenbilder zeigen die Ukraine als schwarze Insel inmitten des europäischen Lichtermeers.

Auch am nächsten und übernächsten Tag bleibt ein grosser Teil Kyjiws ohne Strom. Und weil für die Fernwärme- und die Wasserpumpstationen ebenfalls Energie benötigt wird, fallen auch die Wasserversorgung und die Heizung aus. Während auf dem Land oft auch mit Holz geheizt werden kann, sind viele Menschen in den Städten von Zentralheizungen abhängig. Erstmals seit Jahrzehnten, das gibt der staatliche Netzbetreiber Ukrenerho bekannt, müssen die drei noch unter ukrainischer Kontrolle befindlichen Atomkraftwerke aus Sicherheitsgründen vorübergehend vom Netz genommen werden.

Die Aussentemperatur pendelt in diesen Tagen um den Gefrierpunkt, in den kommenden Wochen dürfte es noch einmal deutlich kälter werden – und die Sorgen der Menschen somit grösser. «Die Zerstörung von Häusern und der fehlende Zugang zu Brennstoff oder Strom könnten zu einer Frage von Leben und Tod werden», warnte kürzlich die Weltgesundheitsorganisation. Kyjiws Bürgermeister Witali Klitschko schwor die Stadtbevölkerung auf den «härtesten Winter seit dem Zweiten Weltkrieg» ein.

Bereits vor dem Raketenangriff von letzter Woche konnte das Stromnetz des Landes nur durch geplante Stromabschaltungen stabilisiert werden. Auf der Website des Energiekonzerns DTEK, der zum Imperium des Oligarchen Rinat Achmetow gehört, konnten die Menschen in der Hauptstadt jeweils nachschauen, wann es in ihrem Haus, der Strasse oder dem Quartier Strom gibt. Einen Tag vor dem Beschuss informiert Ukrenerho-Chef Wolodimir Kudritski an einer Pressekonferenz über den Zustand der Infrastruktur. Neben dem Redner:innenpult liegt eine Wassermelone, das Symbol des befreiten Cherson – einer Region, die für diese Frucht bekannt ist. «Bis auf die drei AKWs sind alle Kraftwerke zerstört oder zumindest beschädigt», konstatiert Kudritski. «Das Zerstörungsniveau ist kolossal, es gibt ein Defizit bei der Stromerzeugung, wir können nicht genug Energie generieren.»

Seither hat sich die Lage noch einmal verschärft: Konnte in der Vergangenheit Strom aus anderen Landesteilen in die vom Blackout betroffenen Gebiete umgeleitet werden, ist dies nun kaum noch möglich. Zwar schwärmen nach jedem Angriff Arbeiter:innen aus, um die zerstörten Leitungen zu reparieren, doch diese Reparaturen sind zeitaufwendig, die Ersatzteile immer schwieriger zu bekommen.

Mit der Stirnlampe unterwegs

Zurück im Zentrum nach der gestoppten Bahnfahrt, inzwischen ist die Sonne untergegangen. Die Metro, die während des Luftalarms Tausenden Unterschlupf bot, ist noch immer voller Menschen, eine Frau singt die ukrainische Nationalhymne, viele lauschen andächtig, manche singen mit. Durch die stockdunklen Strassen eilen Passant:innen mit Stirnlampen auf dem Kopf, leuchtende Punkte in der Dunkelheit. Einige Restaurants und Bars haben zwar geöffnet, doch auch sie bleiben im Dunkeln, deshalb ist das von aussen oft nicht zu erkennen. Nicht nur der über der Stadt aufgezogene Nebel trägt zu einer gespenstischen Stimmung bei.

Viele alltägliche Erledigungen sind dieser Tage nicht mehr möglich, Aufzüge fahren nicht, Züge verspäten sich. Sich waschen oder etwas kochen? Unmöglich. Manche sammeln Schnee, um zumindest etwas Wasser zu haben. Glück hat, wer in der Nähe des Regierungsviertels oder ausländischer Botschaften wohnt, die als prioritär gelten und deshalb so rasch wie möglich wieder Strom erhalten. Privilegiert ist auch, wer einen Generator hat, Geschäfte, Büros oder Hotels etwa. Oft ist in der Dunkelheit nur deren Brummen zu hören. Die Situation in den anderen Quartieren ist deutlich prekärer.

Weitaus grösser sind die Probleme mit der Versorgung allerdings im direkten Kriegsgebiet. Das kürzlich befreite Cherson etwa hat schon lange weder Strom noch Wasser, die Infrastruktur ist komplett zerstört – und täglich feuert das russische Militär Raketen auf die Region ab. Weil die Infrastruktur sich nicht bis zum Einbruch des Winters instandsetzen lässt, müssen viele die Stadt verlassen.

Aufwärmen und Handy laden

Eben war da noch der tödliche Angriff, nun kehrt das Leben in Kyjiw langsam zurück, der Schock aber sitzt wie nach jedem Beschuss tief. In einer von Kerzenlicht erleuchteten Bar im Trendbezirk Podyl berichtet Student Denys Pilasch von seinem Tag. Zum ersten Mal habe er an der Uni wieder Präsenzunterricht gehabt, doch kurz nach Beginn sei der Luftalarm losgegangen, der Rest des Kurses habe im Bunker stattgefunden, nach dem Stromausfall sassen die Student:innen dort im Dunkeln. Pilasch gibt sich dennoch optimistisch. «Russland versucht, die ukrainische Bevölkerung erfrieren zu lassen, doch wir werden auch das überstehen.»

Zwar wird sich die Lage wohl erst im Frühling entspannen, so sagen es die Behörden, doch in Kyjiw sind dieser Tage kaum Wehklagen zu hören, optimistisch wie Pilasch zeigen sich hier viele: mächtiger Durchhaltewille, unerschütterliche Glaube an den Sieg, komme, was wolle. In Durchhalteparolen übt sich auch die Regierung. Mehrere Tausend Aufwärmstationen – in Schulen und Sporthallen, Verwaltungsgebäuden und Zelten – hat sie für das ganze Land angekündigt, ausgestattet mit Generatoren und fliessend Wasser, Internet und Erster Hilfe, mit Platz für bis zu 500 Personen.

Die Regierung hat sie «Punkte der Unbesiegbarkeit» genannt, auch das soll Entschlossenheit demonstrieren. Viele davon sind allerdings noch gar nicht in Betrieb. Und selbst wenn alle Aufwärmpunkte bald eingerichtet werden, können sie die Not nur wenig lindern. Bürgermeister Klitschko sprach wiederholt davon, zumindest einen Teil der Stadt evakuieren zu wollen. Wohin Millionen Menschen mitten im Winter gehen sollen, liess er offen. Wie gross die humanitäre Notlage in der Ukraine noch wird, hängt aber nicht zuletzt von einem anderen Punkt ab: wie viele Raketen die russische Armee noch hat, um die ukrainische Infrastruktur zu beschiessen.

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