Revolution im Iran: «Ich kenne meine Heimat nicht»

Nr. 48 –

Vor über vierzig Jahren kam Familie Arbabi aus dem Iran nach Zürich. Die Eltern versuchten, ihre Tochter Shiva nicht mit ihrer Vergangenheit zu belasten. Jetzt, mit dem Aufstand, bricht in der Familie vieles auf.

Familie Arbabi mit Tochter Shiva in den siebziger Jahren bei Stuttgart auf dem Weg nach Mailand: Pause am Strassenrand
«Was im Iran passiert, belastet uns seit über vierzig Jahren»: Familie Arbabi mit Tochter Shiva in den siebziger Jahren bei Stuttgart auf dem Weg nach Mailand. Sie wohnten damals in Westberlin und kehrten kurze Zeit später in den Iran zurück. Foto: Familienarchiv

Kaum hat sich Vida Arbabi an den Tisch gesetzt, purzeln ihr die Worte förmlich aus dem Mund. Sie ist mit ihrer Tochter Shiva ins Zürcher Café Central gekommen. Hier im Hotel haben sie 1980, kurz nach ihrer Ankunft aus dem Iran, einen Monat gelebt. Ein Jahr zuvor war Schah Mohammad Reza Pahlavi gestürzt worden. Doch die Revolution hatte nicht wie erhofft zu einer Demokratisierung geführt, stattdessen wurde die Islamische Republik ausgerufen.

Vida Arbabi verliess mit ihrem Mann und der damals fünfjährigen Tochter ihre Heimat, bis heute sind alle drei nie mehr in den Iran zurückgekehrt. Die Eltern sprachen mit ihrer Tochter kaum je über den Iran – um sie nicht mit negativen Nachrichten zu belasten. Erst jetzt, mit den weltweiten Protesten, die durch den Mord an Mahsa «Zhina» Amini durch die Moralpolizei Mitte September ausgelöst wurden, begannen sie, miteinander über ihre Heimat zu reden. Ausserdem haben die Ereignisse Shiva politisiert: Die 47-jährige Radiomoderatorin und Gründerin des Senders Piratenradio.ch arbeitet mit dem Organisationskomitee von Free Iran Switzerland zusammen und moderiert Kundgebungen.

Vida Arbabi und Shiva Arbabi beim Zürcher Central
Vida Arbabi und Shiva Arbabi beim Zürcher Central.

Vida Arbabi: Was im Iran passiert, belastet uns seit über vierzig Jahren. Immer wenn wir dachten, es könne nicht mehr schlimmer werden, wurde es noch schlimmer. Wir sind so froh und dankbar, dass wir weggegangen sind. Als 1979 die Islamische Republik ausgerufen wurde, sahen wir keine Zukunft mehr für uns und unsere kleine Tochter. Wenn eine Regierung Religion und Politik gleichsetzt, kann das nicht gut gehen. Deswegen waren wir sehr verängstigt, als der religiöse Führer Chomeini aus Frankreich zurückkam.

Man hat rasch über die Situation der Frauen gesprochen. Es war klar: Wenn ein islamisches Gesetz kommt, müssen Frauen ein Kopftuch tragen. Und wissen Sie, was ich zu meinen Kolleginnen damals gesagt habe? Wenn mit Kopftuch unsere Zukunft und die politische Situation hier im Land besser werden, dann werde ich mir eine Decke über meinen Kopf stülpen. Doch es wurde nicht besser.

Shiva Arbabi: Du musst noch erwähnen, dass du damals beim öffentlichen Radio- und Fernsehsender als Grafikerin gearbeitet hast und dass es plötzlich Pflicht für alle wurde, bei der Arbeit zu beten.

Vida: Über den Lautsprecher haben sie den Koran vorgelesen und die ganze Strasse beschallt. Und wir mussten mitbeten. Es war eine Zeit, in der der religiöse Fanatismus wuchs. Trotzdem haben alle fest geglaubt, es passiere etwas Positives, auch viele Intellektuelle und jene, die für die Demokratie gekämpft hatten. Sie dachten, die Mullahs würden sich nur ein paar Monate halten.

Shiva: Mittlerweile sind es 43 Jahre!

Vida: Unter dem Schah hatten die Menschen im Iran wenig politische Freiheit. Er sah sich als göttlichen König und hat sich sogar selber zum König der Könige – Schahanschah – gekrönt. Er hat nie die Nähe zum Volk gesucht, was ein grosser Fehler war.

Shiva: Er hat sich mit seinem verschwenderischen Reichtum viele Feinde gemacht. Für seine private Protzparty 1971 in Persepolis hat er je nach Schätzung zwischen 100 und 300 Millionen Dollar aus der Staatskasse genommen.

Vida: Viele Menschen waren arm – obwohl der Iran reich an Rohstoffen ist. Allerdings hatten wir Freiheiten im Alltag: Wir konnten als Frauen auf der Strasse so herumlaufen, wie wir wollten, wir hatten damals schon denselben Lohn wie die Männer, wir waren mehr oder weniger gleichberechtigt. Es war kein Problem, als Frau mit Männern im selben Raum zu sitzen und mit ihnen zu arbeiten. Aber den Schah zu kritisieren, war verboten. Damals gab es den Geheimdienst Savak, er hat viele politische Gegner eingesperrt und gefoltert. Demonstrationen waren verboten. Trotzdem haben viele im Hintergrund gegen den Schah gekämpft. Mein Mann hat immer gesagt, wenn der Schah gut gewesen wäre, wäre das alles nicht passiert.

Shiva: Es gibt unter den Demonstrierenden Iranerinnen und Iraner, die sich die Monarchie zurückwünschen. Das kann ich nicht verstehen.

Vida: Ich bin wirklich gespannt, was kommt und in welche Richtung es geht – wenn es überhaupt eine Änderung gibt. Ich hoffe es so fest. Die Jugendlichen im Iran sind so intelligent, sie wollen nicht dieselben Fehler machen wie ihre Eltern.

Shiva: Jetzt kämpft die digitale Generation Z, die sich nichts mehr gefallen lässt. Diese Jungen sind im Gegensatz zu ihren Eltern furchtlos und haben nichts mehr zu verlieren.


Vida: Als die Mullahs 1979 an die Macht kamen und der Schah von den USA fallen gelassen wurde, gingen sie noch härter gegen die Menschen vor als der Schah. Wir hatten schon damals grosse Angst. Unsere Nachbarn waren sehr religiös. Wir hörten gerne Musik, und mein Mann trank ab und zu etwas Alkohol. Wir haben seine Flaschen versteckt aus Angst, sie könnten uns verraten. Verräter sind leider überall.

Shiva: Auch im Ausland. Laut meinen Recherchen hocken sie vor allem in Genf und sind mit internationalen Organisationen wie der Welthandelsorganisation verbandelt. Ich hatte übrigens als Kind in der Schweiz keinen Kontakt zu anderen Iranerinnen und Iranern.

Vida: Wir trauten den Iranern hier nicht, sie hätten ja Anhänger des Regimes sein können. Hinzu kam, dass mein Mann und ich Vollzeit arbeiteten, er als Chemiker und ich als Grafikerin, und wir zudem ein kleines Kind hatten. Wir waren damit beschäftigt, wie wir weiterleben können.

«Ich sah immer nur schwarz, hatte keine Hoffnung. Deswegen haben wir mit unserer Tochter kaum über unsere Heimat gesprochen.»
Vida Arbabi

Shiva: Und wie überleben!

Vida: Wir hatten gar keine Zeit, neue Beziehungen aufzubauen.

Shiva: Keine Zeit für Beziehungen und für Erziehung. Es gab kaum Austausch zu Hause. Ich hatte keine Kindheit, wo man zusammen Znacht isst, plaudert und am Abend Märchen erzählt, ich war ein Schlüsselkind. Meine Kindheit war geprägt von Spannungen, von Unsicherheit und von einer Heimat, die total kaputt ist.

Vida: Das stimmt schon, wir waren nicht viel für dich da. Trotzdem hatten wir hier in der Schweiz viel Glück: Ich fand schon im ersten Monat eine Arbeit als Grafikerin und hatte immer gute Chefs und nette Kolleginnen. Wir hatten gute Nachbarn, und du hast Freundinnen gefunden. Bis zu meiner Pensionierung habe ich während dreizehn Jahren bei der «Glückspost» im Layout gearbeitet. Da war ich glücklich, bei der «Glückspost» (lacht).

Shiva: Meine Mutter ist so talentiert, sie hat wunderschöne Miniaturbilder gemalt. Und dann ist sie bei einem Klatschheft gelandet (Lacht.) Aber gut, du musstest Geld verdienen. Wir konnten übrigens nur in der Schweiz bleiben, weil kurz nach unserer Ankunft der Erste Golfkrieg ausbrach.


Vida: Mein Mann arbeitete in Teheran bei einer deutschen Firma. Wir nahmen beide Ferien und dachten, wir versuchen, uns im Ausland niederzulassen. Er hatte Familie in Genf, deswegen sind wir in die Schweiz gekommen. Wir waren im Iran sehr glücklich und hatten alles: gute Arbeit, eine schöne Wohnung, Freunde und Familie. Das alles haben wir zurückgelassen – das war sehr hart. Ich habe den Schlüssel der Wohnung meiner Mutter gegeben, und wir sind mit praktisch leeren Koffern hier angekommen. Wir hatten sogar ein Rückflugticket gebucht, weil wir nicht sicher waren, ob das mit dem Hierbleiben klappen würde.

Shiva war fünf Jahre alt. Sie hatte in Teheran den deutschen Kindergarten der Firma meines Mannes besucht, deshalb konnte sie schon etwas Deutsch. Es gab dort sogar einen Weihnachtsmann. Der hat euch so erschreckt, weil er mit euch Kindern so streng war, alle haben geweint.

Vida Arbabi
«Wir trauten den Iranern hier in der Schweiz nicht, sie hätten ja Anhänger des Regimes sein können»: Vida Arbabi. Foto: Florian Bachmann

Shiva: Ich kann mich an so vieles aus dieser kurzen Zeit im Iran erinnern. Und so vieles von meinen Teenagerjahren hier in der Schweiz habe ich wieder vergessen. In Teheran war immer etwas los, die Stimmung war immer fröhlich, immer war jemand zu Besuch, und es gab feines Essen. Ich kann mich sogar an meinen letzten Traum im Iran erinnern: Ich fahre auf meinem Bobby-Car, als ich plötzlich merke, dass das ganze Haus auseinanderfällt. Wir hatten einen sehr grossen Esstisch, da bin ich unter den Tisch gefahren, der mich vor den Trümmern gerettet hat. Rückblickend steht der Tisch symbolisch für die Schweiz.

Vida: Von Genf konnten wir schliesslich nach Zürich gehen. Wir wollten in die Deutschschweiz, da wir bereits Deutsch sprachen: Ich hatte in den siebziger Jahren in Wien angewandte Kunst studiert. In Wien erlebte ich eine so gute und schöne Zeit, die Stadt wurde zu meiner zweiten Heimat. Dort lernte ich auch meinen Mann kennen, der Chemiestudent war. Wir heirateten in Wien, unsere Familien aus dem Iran kamen zu unserer Hochzeit – und Shiva kam auch in Wien zur Welt. Anschliessend lebten wir in Berlin und kehrten dann nach Teheran zurück, wo wir leider nur drei Jahre lebten. Dann kamen wir in die Schweiz. In Zürich wohnten wir zuerst einen Monat hier im Hotel Central. Und da gab es eine Demonstration mit nackten Leuten! Ich weiss nicht, wofür oder wogegen sie demonstrierten. Aber ich kann mich noch so gut erinnern, wie wir am Fenster standen und all die nackten Menschen über die Brücke gelaufen kamen. Mein Mann hat gesagt: «Oh nein, wo sind wir da gelandet? Wir müssen zurück in den Iran!» (Lacht.)

Shiva: Eine meiner ersten Erinnerungen an die Schweiz ist die Polybahn und das kleine Häuschen hier am Central, in dem der Polizist stand und den Verkehr regelte. Das faszinierte mich so, dass ich das später auch machen wollte. Ich bin dann zum Glück beim Radio gelandet (lacht). Was sich auch eingebrannt hat, ist das schlimme Gefühl von Tränengas in den Augen: Meine Eltern sind mit mir Hand in Hand am Limmatquai entlangspaziert, als da plötzlich brennende Container, Wasserwerfer und Vermummte waren. Dieses schmerzhafte Brennen in den Augen werde ich nie mehr vergessen. Für euch war das auch schlimm, weil ihr mich in absolute Gefahr gebracht habt: Ich meine, ihr kommt in die Schweiz, damit wir endlich sicher sind. Und als Erstes laufen wir in eine Demo mit Tränengas. Später erfuhr ich dann, dass das die Opernhauskrawalle waren.

Meine Kindheit war geprägt von einer Negativität: Da waren der Platzspitz und der Letten in Zürich, der Golfkrieg im Iran, und wenn ich Probleme in der Schule hatte, war das irgendwie zu viel für euch.

Vida: Und nie, nie haben wir eine positive Nachricht von der Heimat gehört. Seit 43 Jahren hörst und schaust du Nachrichten – immer ist alles schlecht.

Shiva: Es ist wie ein Albtraum, der nie endet.

Vida: Mein Mann und ich haben noch immer viele Albträume. So ein schönes Land, das die Mullahs kaputtgemacht haben. Ich sah immer nur schwarz, hatte keine Hoffnung. Deswegen haben wir mit unserer Tochter kaum über unsere Heimat gesprochen. Wir wollten sie schützen, damit sie hier in Frieden aufwachsen kann.

Shiva: Das war schon immer das Thema: mich beschützen, überbeschützen. Der Iran war selten ein Thema. Ich habe den Ersten Golfkrieg mitbekommen – der ja acht Jahre dauerte –, weil meine Eltern fast täglich mit unseren Verwandten telefonierten und ich ihre Angst spüren konnte. Obwohl sie mich damit nicht belasten wollten.

Vida: Genau.

Shiva: Ihr habt den Iran nur schlechtgeredet, gesagt, es sei ein kaputtes und hoffnungsloses Land geworden – sodass ich mich nicht eine Sekunde mit meiner Heimat auseinandersetzen wollte. Ich habe auch keinen iranischen Pass mehr.

Vida: Wir sind zwar Doppelbürger, haben jedoch die Pässe nicht mehr beantragt. Aber vielleicht ist jetzt tatsächlich der Moment gekommen, und die Mullahs werden gestürzt. Ich wünsche es mir so sehr, doch ich wage es kaum zu hoffen. Ich habe mir das Video von Mahsa Amini mehrmals angeschaut, es ist furchtbar und so traurig, was ihr angetan wurde. Und doch finde ich es sehr gut, dass es gefilmt worden ist. Nun sehen alle, wie brutal dieses Regime ist.

Shiva: Seit über zwei Monaten bin ich nur auf Instagram, schaue mir Bilder an und teile sie. Ich poste nichts anderes als das Geschehen im Iran. Ich war in den sozialen Medien noch nie so aktiv. Das Perfide ist ja, dass das Regime während 43 Jahren versucht hat, keine Informationen nach aussen dringen zu lassen. Aber das ist dank der sozialen Medien nicht mehr möglich. Nun gelangen alle möglichen Bilder und Videos an die Öffentlichkeit – trotz Internetsperren. Da sind nicht nur die Gewalttaten des Regimes zu sehen, sondern auch Fotos von Familienmitgliedern der Mullahs, die im Ausland entweder in Saus und Braus leben oder Ferien machen. Auf diesen Bildern vergnügen sich ihre Frauen ohne Kopftuch! Die Mullahs kennen keine Regeln und keine Moral. Und dass Aussenminister Ignazio Cassis mit solchen Kindermördern an einen Tisch sitzt, um mit ihnen zu verhandeln und diplomatische Gespräche über Menschenrechte zu führen, ist einfach nur lächerlich. Mit diesen Menschen kann und darf man nicht verhandeln.

Vida: Genau, bravo!

Passbild der Familie Arbabi (Teheran, 1979)
Fotos aus dem Familienarchiv: Passbild der Familie Arbabi (Teheran, 1979).
Shiva Arbabi bei einem Ausflug ans Kaspische Meer (1977)
Shiva Arbabi bei einem Ausflug ans Kaspische Meer (1977).
Shiva mit Mutter Vida und Onkel und Tante aus Berlin 1982 in Witikon ZH
Shiva mit Mutter Vida und Onkel und Tante aus Berlin 1982 in Witikon ZH.
Shiva beim rumalbern mit der Grossmutter am Greifensee
Rumalbern mit der Grossmutter am Greifensee. Sie kam ab und zu aus dem Iran zu Besuch.

Shiva: Was jetzt gerade politisch in der Schweiz läuft, ist für mich etwas vom Enttäuschendsten überhaupt. Während die Schweiz alle Sanktionen der EU gegenüber Russland übernommen hat, macht sie das beim Iran nicht. Dabei hätte gerade die Schweiz sehr viel Macht, denn die Mullahs haben grosses Interesse an den Diensten dieses Landes. Die Schweiz kann und muss Druck auf sie ausüben, indem sie ihre Konten sperrt und ihnen die Einreise verweigert.

Vida: Ich akzeptiere die Schweizer Neutralität, wenn sie niemandem Schaden zufügt. Ich finde es auch ein schickes und elegantes Wort: Man ist «neutral» und mischt sich nicht in ausländische politische Verstrickungen ein. Aber der Bundesrat hat diesem Regime leider immer wieder seine Anerkennung gezeigt, wie Micheline Calmy-Rey, die 2008 bei einem Besuch im Iran mit Kopftuch den iranischen Präsidenten beehrt hat. Das macht mich besonders wütend. Im Iran geht es um Leben und Tod. Seit dem Ausbruch der landesweiten Proteste sind schon über sechzig Kinder getötet worden. Deshalb dürfen Schweizer Politiker diesen Mullahs nicht auch noch freundlich die Hände schütteln. Das sendet falsche Signale.

Shiva: Wie viele Menschen müssen noch sterben, bis die offizielle Schweiz reagiert? Wir haben so Angst, dass wieder ein Massaker passiert wie im November 2019 – von dem man hier fast nichts weiss, weil die Medien kaum darüber berichtet haben. Viele Exiliranerinnen und -iraner fragen sich auch: Wo ist die Solidarität der Schweizerinnen und Schweizer? Die Zürcher Musikerin Big Zis hat mir an der Demo in Bern aus der Seele gesprochen, als sie gesagt hat: «Die Revolution wird feministisch sein, sie ist feministisch. Der Feminismus ist intersektional und international, oder es ist kein Feminismus.» Ich verstehe nicht, weshalb die Schweizer Feministinnen uns bis jetzt nicht lautstark unterstützt haben. Mir ist bewusst, dass es zurzeit einfach zu viele negative Nachrichten gibt, auch durch den Krieg in der Ukraine – und jetzt kommt noch der Iran. Trotzdem sollten die Medien, allen voran SRF, genauer hinsehen und die Beziehungen der Schweiz zum Iran einmal richtig durchleuchten.


Vida: Mein Mann und ich sind sehr stolz auf Shiva, dass sie so aktiv ist und sich bei den Demonstrationen engagiert. Aber wir haben ihr auch gesagt, dass sie aufpassen müsse, weil sie sich auch hier in der Schweiz in Gefahr bringen kann.

Shiva: Ich würde mich so schlecht fühlen, wenn ich nichts machen würde. Ich habe so lange nichts gemacht. Jetzt bin ich all das am Aufarbeiten, über das wir während vierzig Jahren nie geredet haben. Besonders absurd ist es, wenn mir Schweizer von ihrer Iranreise erzählen. Sie schwärmen dann von unserer Gastfreundschaft und Hochkultur, während ich aus Sicherheitsgründen nie mehr dort war und nicht mitreden kann. Ich kenne meine Heimat nicht.

Vida: Als es die erste Demonstration in Zürich gab, wollten mein Mann und ich hin, aber er schaffte es aus gesundheitlichen Gründen nicht. Weil ich nicht alleine hingehen wollte, liess ich es bleiben. Ich habe Shiva erst nachher davon erzählt.

Shiva Arbabi
«Ich hatte keine Kindheit, wo man zusammen Znacht isst, plaudert und am Abend Märchen erzählt»: Shiva Arbabi. Foto: Florian Bachmann

Shiva: Das ist so typisch: Bis zu diesem Zeitpunkt haben sie noch versucht, mich zu schützen. Als die Proteste im Iran losgingen, hatte ich dieselbe Reaktion wie immer: Oh nein, nicht schon wieder schlechte Nachrichten aus dem Iran. Ich wusste überhaupt nicht, was ich damit anfangen sollte, ich ging auch nicht an die erste Demo in Zürich. Dann hat mich ein ehemaliger Arbeitskollege, der jetzt bei SRF 4 arbeitet, angerufen und ein paar Fragen gestellt. Das hat bei mir etwas ausgelöst. Plötzlich habe ich gemerkt: Das betrifft auch mich, und ich muss mich engagieren.

Vida: Sie war Feuer und Flamme.

Shiva: Über Instagram habe ich die Organisatoren der Demo in Zürich angeschrieben und meine Hilfe angeboten. Nun bin ich mit ganz vielen Iranerinnen und Iranern vernetzt. Aber wir sind supervorsichtig und machen tausend Checks, wenn uns jemand Neues kontaktiert.


Vida: Wir alle wünschen uns so sehr, dass die Menschen im Iran frei sind und dass wir Exiliraner wieder in die Heimat dürfen, ohne Angst, dass uns etwas passiert. Die Menschen im Iran sind so mutig, doch leider sind es fast nur Jugendliche, die auf die Strasse gehen. Die älteren Menschen machen nicht mit, dabei wäre es so wichtig, dass auch sie rausgehen und kämpfen. Ich verstehe, dass sie Angst haben, aber sie müssen doch auch Angst davor haben, dass ihre Kinder getötet werden könnten! Die Kinder bezahlen nun mit ihrem Leben für die Fehler, die ihre Eltern und Grosseltern gemacht haben. Die armen Jugendlichen.

Wenn der Iran kein Öl hätte, hätten wir viel weniger Probleme. Das ist unser Leid. Wir haben alles, aber am Ende nichts in der Hand. Wir werden von aussen ausgesaugt. Das ist Weltpolitik. Leider. Europa geht es nur so gut, weil es ausschliesslich an seinen Profit denkt und Geschäfte macht, egal mit welchem Regime. Doch wie viele Länder müssen noch kaputtgehen, damit es Europa gut geht? Und die ganze Fluchtbewegung hierher ist eine Folge dieser egoistischen Politik. Denn wer will schon freiwillig seine Heimat verlassen?

Shiva: Und niemand will freiwillig in einer Asylunterkunft wohnen, niemand will weit weg von seiner Familie und seinen Freunden leben. Menschenrechte sind oft nur Lippenbekenntnisse, und an unserem Wohlstand klebt viel Blut. Ich bin so stolz auf die mutigen iranischen Frauen, diese Kämpferinnen, die diese Revolution tragen. Wir nennen das, was nun passiert, offiziell Revolution und nicht mehr Unruhen oder Proteste. Mein Vater wünscht sich ganz fest, dass die Frauen nicht nur diese Revolution gewinnen, sondern dass sie auch an die Macht kommen und dass es nicht wieder einen vom Ausland gesteuerten Putsch gibt. Das wünsche ich mir auch: dass der Iran durch die Frauen befreit und von ihnen in die Zukunft regiert wird. Ganz nach dem Slogan «Frau, Leben, Freiheit!».

Der Iran und die Schweiz : Mandate statt Sanktionen

Am 21. September twitterte der Schweizer Aussenminister Ignazio Cassis aus dem Iran: «Schwerpunkte meines Treffens mit dem iranischen Präsidenten Ebrahim Raisi: bilaterale Beziehungen, Schutzmachtmandat der Schweiz & Erhalt des Iran-Atomabkommens #JCPOA.» Nur ein paar Tage zuvor war die 22-jährige Mahsa «Zhina» Amini von der Moralpolizei ermordet worden, und im Land begannen Proteste gegen das brutale Regime der Mullahs, die sich mittlerweile international ausgeweitet haben. Zwar erwähnte Cassis nach den Geschäften doch noch seine Besorgnis über den Tod von Mahsa Amini – trotzdem sorgte sein Tweet für Unmut.

Auch dass die Schweiz die von der EU Mitte Oktober beschlossenen Sanktionen gegen Organisationen und Personen, die Menschenrechtsverletzungen begangen haben, nicht mitträgt, wird von linken Parlamentarier:innen wie Sibel Arslan oder Natalie Imboden stark kritisiert. Die Begründung des Bundesrats: Innen- und aussenpolitische Interessen der Schweiz gingen vor. Dabei spielt wohl auch mit, dass die Schweiz fünf Schutzmachtmandate innehat – unter anderem dasjenige für die USA – und für diese Länder diplomatische und beratende Dienstleistungen im Kontakt mit dem Iran anbietet.

Doch nun tut sich etwas: Ende November beschloss die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats, den Bundesrat mit einem Schreiben zur Übernahme der EU-Sanktionen aufzufordern. Das Geschäft muss nun durch den National- und den Ständerat – allerdings ist es für die Dezembersession nicht traktandiert.