Asylpolitik: Ausschaffungsgrund: Bauernopfer
Die Schweiz hat zwei junge Männer öffentlichkeitswirksam nach Afghanistan abgeschoben. Sie sollen eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dargestellt haben. Aber stimmt das wirklich?

«Ich bin in der Hölle gelandet», schreibt Akram Behsad per Whatsapp-Nachricht. Der 27-Jährige befindet sich in Kabul, der Hauptstadt Afghanistans. Er verstecke sich dort in einer leer stehenden Wohnung, gehe aus Angst vor Repressionen kaum nach draussen. Am 27. September hat die Berner Polizei Behsad, der eigentlich anders heisst, und seinen Zimmerkollegen aus einem Asylzentrum im Seeland abgeholt. Behsad wird später mit dem Flugzeug nach Istanbul gebracht und dort von der türkischen Polizei ins Flugzeug nach Afghanistan gesetzt. Sein Zimmerkollege wird nach ein paar Tagen im Gefängnis am 2. Oktober auf demselben Weg ausgeschafft.
Die beiden Ausschaffungen erhielten viel mediale Aufmerksamkeit. Zuvor hatten rechtsbürgerliche Politiker:innen gefordert, die Schweiz solle «kriminelle Afghanen» wie zuvor schon Deutschland zurück nach Afghanistan schaffen. Wenige Wochen später sassen Behsad und sein Zimmerkollege im Flugzeug.
Es sind die ersten Zwangsrückführungen nach Afghanistan seit 2019. Damals wurden die Rückführungen wegen der Coronapandemie unterbrochen. Als 2021 in Afghanistan wieder die radikalislamistischen Taliban übernahmen, setzte die Schweiz Zwangsrückführungen generell aus. Bei Straffälligen mit Landesverweis wurden ebenfalls keine Ausschaffungen mehr verfügt. Auch in diesen Fällen sei eine Rückführung nach Afghanistan nicht möglich, entschied das Staatssekretariat für Migration (SEM) damals. Menschenrechtsorganisationen begrüssten dies; Rückgeführte seien aufgrund der verheerenden humanitären Lage und der Menschenrechtsverletzungen unter den Taliban existenziell bedroht.
Trotz unveränderter Menschenrechtslage will die Schweiz nun einen Kurswechsel vollziehen: Die beiden Ausschaffungen seien ein Pilotprojekt, um «schwere Straftäter» nach Afghanistan auszuschaffen, sagte Vincenzo Mascioli, Vizedirektor des SEM, nach getaner Arbeit dem «SonntagsBlick». Man plane nun so schnell wie möglich weitere Ausschaffungen.
Klar ist: Die Schweiz will im aufgeheizten migrationspolitischen Klima Härte demonstrieren. SEM-Vize Mascioli machte das im «SonntagsBlick» auch mit der Aussage, man habe Täter ausgeschafft, die «ein Problem für die innere Sicherheit der Schweiz darstellen». Bloss: Zumindest im Fall von Akram Behsad existierte das behauptete Bedrohungsszenario gar nicht.
Als Minderjähriger auf der Flucht
Anruf bei Jürg Schneider, der Akram Behsad seit fast zehn Jahren kennt und begleitet hat. Er habe es kaum fassen können, als er die Aussagen von Mascioli zu Behsad gelesen habe, sagt der Berner Asylaktivist. «Ich schätze Akram, er ist eigentlich ein Guter, der vor Jahren einen Fehler gemacht hat.» Das sei nun von den Migrationsbehörden benutzt worden, um öffentlichkeitswirksam ein Exempel zu statuieren. «Akram ist ein Bauernopfer und weder ein Verbrecher noch eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit des Landes.»
Akram Behsad kommt 2015 als Minderjähriger in die Schweiz. Er beantragt Asyl: Er habe in Kabul mehrfach Gewalt erlebt – zudem sei er als Angehöriger der Hasara-Minderheit bedroht. Doch im Januar 2018 lehnen die Behörden sein Asylgesuch wie die meisten Gesuche von Menschen aus Afghanistan ab. Anwält:innen machen Behsad in der Folge keine Hoffnungen, dass der Entscheid umgestossen werden könnte. Der junge Mann ist verzweifelt. Wenige Wochen später gerät Behsad beim Fussballspielen mit einem anderen jungen Geflüchteten aneinander. Er schlägt diesen zu Boden und versetzt ihm dann einen Fusstritt gegen den Kopf, so wird es später in der Anklageschrift stehen. Die Folgen des Tritts: «Hauteinblutungen, Hautverfärbungen und Hautabschürfungen» im Gesicht, aber keine schweren Verletzungen.
2019 wird Behsad vom Berner Regionalgericht wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer bedingten Gefängnisstrafe von sechzehn Monaten verurteilt. Mit diesem Straftatbestand geht aufgrund der sogenannten Ausschaffungsinitiative der SVP automatisch auch ein Landesverweis einher. In Behsads Fall für sieben Jahre.
«Ich habe 2018 einen Fehler gemacht, den ich sehr bedauere», sagt Akram Behsad am Telefon gegenüber der WOZ. Er sei damals sehr jung gewesen und gestresst. Beim Fussballspielen habe ihn die andere Person bedroht und beleidigt. Er habe seither nie mehr Probleme mit dem Gesetz gehabt. Im Gefängnis verbrachte er keinen Tag. «Ich stehe heute an einem ganz anderen Ort.» Dass ihn die Schweiz als «schweren Straftäter» bezeichnet, kann Behsad kaum glauben. Bis heute komme ihm immer wieder der Gedanke, dass bei seiner Ausschaffung eine Verwechslung passiert sein müsse.
Tatsächlich ist in Behsads weiterem Lebensweg nicht auszumachen, was für die Behörden bedrohlich wirken könnte. Im Gegenteil: Ein Möbelmacher bot ihm 2022 eine feste Arbeitsstelle an und informierte darüber auch das SEM. Jürg Schneider wandte sich an SEM-Direktorin Christine Schraner Burgener und teilte ihr seine positiven Erfahrungen mit Behsad mit. Die letzten Jahre verbrachte Behsad wie auch sein ebenfalls ausgeschaffter Zimmerkollege in einem sogenannten Rückkehrzentrum für abgelehnte Asylsuchende unter miserablen Wohn- und Lebensbedingungen, ohne Arbeitsbewilligung und Perspektive. Freunde erzählen, wie Behsad dennoch versucht hat, sich eine Perspektive zu schaffen, wie er Freunde besucht und regelmässig an Sporttrainings teilgenommen hat. Bis man beim Bund entschied, dass Behsad nun eine Gefahr für das Land darstelle.
Ermessensspielräume
Das SEM will «aus Datenschutzgründen» die Fragen der WOZ zu den beiden konkreten Fällen nicht beantworten. Es teilt einzig mit, Mascioli sei im «SonntagsBlick» falsch zitiert worden: «Er wollte sagen, dass die Straftäter ein Problem für die öffentliche Sicherheit darstellen und nicht für die innere Sicherheit.»*
Weiter schreibt das SEM: Der Vollzug von gerichtlich angeordneten Landesverweisen sei ein gesetzlicher Auftrag, bei dem es «keinen Ermessensspielraum» gebe. Sprich: Das SEM müsse in solchen Fällen zwingend ausschaffen. Dass das nicht zutrifft, beweist die Praxis des SEM selbst, das Ausschaffungen nach Afghanistan schliesslich ausgesetzt hatte. Was dagegen tatsächlich keinen Ermessensspielraum gewährt, sind das Völkerrecht und das Folterverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese sagen unmissverständlich: Wenn in einem Land Folter oder Verfolgung drohen, ist eine Rückschaffung in keinem Fall erlaubt. Das wurde dem SEM auch 2020 klargemacht: Damals verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweiz, weil sie mit einem Rückführungsentscheid nach Gambia das Folterverbot der EMRK verletzt hatte. Das SEM schreibt, es «kläre selbstverständlich ab, ob schwere Menschenrechtsverletzungen drohen». Falls dem so sei, würden «selbstverständlich keine Zwangsrückführungen» angeordnet.
Bedrohung jeden Tag präsent
Beat Gerber von Amnesty International sagt: Im Fall von Afghanistan sei es nicht möglich, bei einer Rückschaffung Folter oder Verfolgung auszuschliessen. «Den Schweizer Behörden ist es praktisch unmöglich abzuklären, was ausgeschafften Personen in Afghanistan droht.» Dies auch deshalb, weil die Schweiz in Afghanistan über keine diplomatischen Niederlassungen verfüge. «Die Gefahr schwerer Menschenrechtsverletzungen ist gross, weshalb Amnesty International gegen jegliche Zwangsrückführungen nach Afghanistan ist.» Gerber kritisiert zudem, dass die Schweiz mit den Ausschaffungen dem Talibanregime Legitimation verschaffe.
Für Akram Behsad ist die Bedrohung in Afghanistan jeden Tag präsent. Als Ausweg sieht er einzig eine erneute Flucht. Nach Europa zurück kann er im Moment aber nicht: Der Landesverweis der Schweiz ist im gesamten Schengen-Raum registriert. Deshalb muss er wohl in ein Nachbarland flüchten, obwohl die Lebensbedingungen für Geflüchtete dort in der Regel sehr harsch sind. Doch die Zeit drängt: Die Wohnung, in der er Zuflucht gesucht hat, verfügt über keine Heizung, und der Winter naht.
Für Vincenzo Mascioli und Bundesrat Beat Jans kam die Berichterstattung im «SonntagsBlick» zum richtigen Zeitpunkt. Drei Tage später beförderte Jans (SP) Mascioli zum künftigen SEM-Direktor. In der offiziellen Medienmitteilung des Bundesrats wurde die von Mascioli betriebene «konsequente Rückkehrpolitik» lobend erwähnt. Auch das zeigt, in welche Richtung die Schweizer Asylpolitik aktuell steuert.
*Anmerkung vom 1. November 2024: Der «SonntagsBlick» hält fest, das angeblich falsche Zitat sei von Vincenzo Mascioli schriftlich autorisiert worden.