Migration: Kevin ist wieder da

Nr. 10 –

Einst war er in der Schweiz als Flüchtlingskind anerkannt, dann zwang ihn sein Vater zur Rückkehr nach Sri Lanka. Jetzt ist der junge Mann wieder da – und kämpft darum, in seiner Heimat bleiben zu dürfen.

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Kevin unkenntlich fotografiert
Luzern ist sein Zuhause: «Warum kann ich nicht hierbleiben?», fragt Kevin.

Vieles sei noch genau wie früher, sagt Kevin* beim Spaziergang durchs Quartier. Die Velodächer, auf die er mit seinen Freunden geklettert sei. Die steinernen Bänke im Moosmattschulhaus, auf denen die Schulkinder immer Fangis gespielt hätten. Er erinnert sich an den Hauswart. An die Schulfasnacht. Und an die ersten Zeilen eines Lieds, das er mit einem Schüler:innenchor fürs Hundert-Jahr-Jubiläum des Schulhauses einübte.

Kevin, heute zwanzig Jahre alt, muss lachen. Er geniesst es, die Bilder einer unbeschwerten Kindheit mitten in Luzern wach werden zu lassen. Nur die Gleise der Zentralbahn vor dem Haus mit der gelben Fassade, in dem Kevin aufgewachsen ist, sind heute nicht mehr da. Stattdessen führt ein breiter Veloweg vor dem Balkon durch, von dem aus er früher gern die vorbeifahrenden Züge beobachtet habe.

Er sei perplex gewesen, als sein bester Freund vor einem Jahr ganz plötzlich und ganz allein wieder da gewesen sei, sagt Vinu* – neun Jahre nachdem Kevin mit der ganzen Familie nach Sri Lanka ausgereist war. Viel habe er seitdem nicht mehr mitbekommen. «In dem Alter vergisst man schnell», sagt Vinu, der ein Jahr älter ist als Kevin. Auch wegen der fehlenden Zeit neben der Lehre, der unterschiedlichen Zeitzonen. «Als er mir dann seine Geschichte erzählte, da war ich schockiert», sagt Vinu. «Erst jetzt realisiere ich, wie schlimm das alles war.»

Kevin wählt seine Worte mit Bedacht. Er will präzis sein, wenn er von seinem Leben erzählt. Aber zwischendurch kommt er ins Stocken: dann, wenn seine Geschichte unweigerlich auf die Gegenwart zusteuert. «Warum?», fragt er dann. «Warum kann ich nicht hierbleiben?» Endlich sei er zu Hause, endlich habe er seine Freunde wieder, Träume und ein Ziel im Leben. «Ich werde hier immer glücklicher», sagt Kevin. «Aber je glücklicher ich werde, desto trauriger macht mich das.»

Entwurzelt mit zehn Jahren

Ein ganz normales Kind sei er gewesen, sagt Kevin. 2004 in Luzern geboren, hier aufgewachsen und bis zur fünften Klasse zur Schule gegangen. Den Status eines anerkannten Flüchtlings hat er zusammen mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester von den Eltern bekommen; sein Vater war in den Neunzigern vor dem Krieg in Sri Lanka geflohen. Der Vater arbeitete in einer Fleischfabrik und später, aufgrund gesundheitlicher Probleme, in einem Internetcafé in Zürich. Die Mutter sei vor allem zu Hause gewesen, erzählt Kevin, der Vater habe es ihr schwer gemacht, rauszukommen.

Und wenige Jahre nachdem der Krieg 2009 zu Ende gegangen war, wollte der Vater nach Sri Lanka zurückkehren. Er liess in Kalmunai an der Ostküste der Insel ein Haus bauen. «Ich wäre gerne in Luzern geblieben», sagt Kevins Mutter am Telefon. Im Stillen, fast schon heimlich, hatte sie sich in der Schweiz ein Umfeld aufgebaut, Freundschaften gepflegt, als Näherin ein kleines Nebeneinkommen gehabt. «Aber der Druck meines Partners war gross», sagt Kevins Mutter. «Er hat gegen unseren Widerstand unsere Ausreise erzwungen.»

Verschiedene Freund:innen der Familie berichten von einer schwierigen Zeit, in der Kevins Vater versucht habe, äussere Einflüsse fernzuhalten. Alle Ratschläge, zum Wohl der Kinder – und nach zwei Herzinfarkten auch für die eigene Gesundheit – hierzubleiben, habe er ignoriert. Auch Gewalt war im Spiel, wie mehrere Bekannte bezeugen; nach einem Vorfall musste Kevins Mutter sogar ins Spital gebracht werden.

Im Jahr 2014 ging der Vater schliesslich zu den Behörden, um den Aufenthaltsstatus der ganzen Familie zu annullieren. «Es war heftig», sagt Susann Tafanalo, Kevins Klassenlehrerin im fünften Schuljahr. Im September, kurz vor den Herbstferien, habe der Vater die Schule vor vollendete Tatsachen gestellt. Sie erinnere sich noch sehr gut an Kevin, sagt die mittlerweile pensionierte Lehrerin: «Er war ein aufgeweckter Schüler, gewitzt und lustig, immer mittendrin.» Kevin zeigt ein Foto des Büchleins, das er zum Abschied von seiner Schulklasse erhielt, mit vielen Unterschriften und von Kinderhand gezeichneten Herzchen. Sie hätten vereinbart, mit Kevin in Kontakt zu bleiben, sagt Tafanalo. Wenig später, im Oktober 2014, reiste der Junge aus.

Es sollte eine Weile dauern, bis Susann Tafanalo sich bei Kevin meldete. «Wir haben euch nicht vergessen!», schrieb sie nach einigen Monaten in einem E-Mail. Und, im Namen der ganzen Schulklasse: «Erinnerst du dich noch an uns?» Kevin erinnerte sich nur allzu gut. Er habe beim Lesen sofort angefangen zu weinen, sagt er. Denn in Kalmunai ist er nie richtig angekommen. Kevin erzählt, wie isoliert er war in der mittelgrossen Küstenstadt und wie ihn Mitschüler:innen wie Lehrer:innen ausgeschlossen hätten. «Sie mögen uns nicht», sagt er und meint damit Rückkehrer:innen, die mit etwas Wohlstand aus Europa oder den USA in Sri Lanka ankommen. Alle hätten ihn nur als Sohn seines Vaters wahrgenommen, der die Menschen arrogant behandelt habe. «Nur schon unser grosses Haus passt dort überhaupt nicht in die Strasse mit den vielen weissen Wellblechdächern», sagt Kevin.

Frau Tafanalos Nachricht blieb unbeantwortet. Denn auf sein Weinen habe der Vater erbost reagiert, bald schon alle alten Kontakte auf seinem Handy gelöscht, ihm dieses schliesslich ganz weggenommen. Vielleicht wollte der Vater damit Gutes tun, dem Sohn beim Loslassen des alten Lebens helfen. Kevin allerdings fiel in ein immer tieferes Loch, aus dem er nicht mehr herausfinden sollte. Er erzählt von Jahren grosser Einsamkeit.

«Der damalige Zustand von Kevin lässt sich schwer in Worte fassen», sagt die Mutter. «Er war belastet und geknickt.» Hinzu kam, dass die gesundheitlichen Probleme des Vaters zunahmen. Er hatte einen weiteren Herzinfarkt, dann Nierenprobleme. Im August 2021 verstarb er. Weshalb auch seine Sicht auf die Geschichte hier fehlt.

Nach dem Tod seines Vaters fasste Kevin den Entschluss, in die Schweiz zurückzukehren und nach Jahren des Leerlaufs sein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Im Frühjahr 2024 brach er auf. Aber ins Land, das er als seine Heimat bezeichnet, musste Kevin diesmal illegal einreisen – mit einem Schlepper, der viel Geld kostete. Als der Schlepper ihn nach einer mehrtägigen Reise in Zürich absetzte, hatte Kevin praktisch nichts bei sich. Kein Handy, kein Portemonnaie – bloss die Telefonnummer eines Bekannten. Er musste auf der Strasse jemanden fragen, ob er dessen Handy benutzen dürfe.

«Bro, was machst du hier?!»

Es war der Startpunkt eines langen Ankommens. Kevin dürfe sich keinesfalls illegal in der Schweiz aufhalten, habe der Bekannte gesagt – und ihn nach Basel gebracht, damit er dort ein Asylgesuch stellen konnte. «Das ist nun mal der einzige Weg, den Tamilen in der Schweiz kennen», sagt Kevin. Man habe ihn dann nach Chiasso geschickt, wo er zur Asylanhörung gebeten wurde; auf Italienisch, mit Übersetzung ins Tamilische. «Dabei kann ich ja mindestens so gut Deutsch.»

Bald darauf wurde Kevin in eine abgelegene Asylunterkunft am obwaldnerischen Glaubenberg überwiesen. Auf dem Weg dorthin musste er in Luzern umsteigen. «Endlich bin ich wieder zu Hause», habe er gedacht. Und sich fortan bei jeder Gelegenheit in die Stadt und dort auf Spurensuche begeben. Durch einen glücklichen Zufall stiess er dabei nach kurzer Zeit auf seinen besten Kindheitsfreund: Hinter der Theke eines Kiosks erkannte er Vinus Vater. Seither darf er in deren Wohnung in Littau wohnen.

Auf einem langen Abendspaziergang tauschen die beiden alte Erinnerungen aus. Reden über Streiche auf dem Schulweg, über den Schwimmunterricht, übers Gamen. Gerne würde er viel mehr Zeit mit Kevin verbringen, sagt Vinu, aber weil er neben der Arbeit als Elektromonteur noch im Kiosk seines Vaters aushelfe, fehle meistens die Zeit. Wann immer möglich besuche ihn Kevin deshalb abends im Kiosk. «Zwischen uns ist es fast schon wieder wie früher», findet Vinu. «Als wäre Kevin einfach ganz lang in den Ferien gewesen.»

Kevins Umfeld ist heute, etwa ein Jahr nach seiner Ankunft, schon beträchtlich gross. Auf gut Glück klingelte er bei manchen Kindheitsfreunden an den Wohnadressen von damals; manche hätten ihn gar nicht mehr erkannt, andere ihn voller Freude aufgenommen. «Bro, was machst du hier?!», habe ein Klassenkamerad gerufen und ihn vor der Haustür herzlich umarmt. Kevin fand Bekannte der Familie, lernte auch neue Freund:innen kennen. Und machte Frau Tafanalo ausfindig, seine Primarlehrerin.

Anschluss hat Kevin auch im «Hello Welcome» gefunden, dem migrantischen Begegnungsort an der Bundesstrasse, wo er Menschen bei der Bürokratiebewältigung im Alltag hilft. «Ich denke bereits wieder auf Deutsch», sagt Kevin. Und er hat konkrete Vorstellungen für die eigene Zukunft: «Ich möchte unbedingt eine Ausbildung im Bereich ÖV machen.» Schon immer sei er ein Zugfreak gewesen, vielleicht, weil er gleich neben den Bahngleisen aufgewachsen sei.

Keinerlei Gehör

Während Kevin in seiner Heimatstadt wieder Fuss fasste, mahlten im letzten Jahr aber auch die unerbittlichen Mühlen der Migrationsbehörden. Mangels asylrelevanter Fluchtgründe trat das Staatssekretariat für Migration (SEM) nicht auf sein Gesuch ein. Er wandte sich in einem langen Brief ans SEM, appellierte an die Menschlichkeit, verwies auf die Uno-Kinderrechtskonvention, fand aber keinerlei Gehör. Er kontaktierte mehrere Anwälte, rekurrierte beim Bundesverwaltungsgericht, wurde abgewiesen. Das Verdikt ist unmissverständlich: Kevin sei ein gesunder männlicher Erwachsener. Dass er die Schweiz als Zehnjähriger gegen seinen Willen habe verlassen müssen, sei «ohne Bedeutung». Bereits wurde Kevin zum Ausreisegespräch aufgeboten. Er kooperiert, das ist ihm wichtig – «denn ich will nicht in Handschellen abgeführt werden».

Und so findet sich Kevin, der in Luzern sein Leben wiedergefunden hat, erneut in einer unerträglichen Situation wieder. Auf Geheiss seiner Hausärztin begab er sich in psychiatrische Behandlung. Die Ratlosigkeit ist gross, in seinem Umfeld, aber auch bei ihm selbst. Und jedes Gespräch landet früher oder später an dem Punkt, an dem er fragt: «Warum? Warum kann ich nicht hierbleiben?» Sri Lanka, das bedeute für ihn Trauma. Hier hingegen kenne er jede Strasse, jede Ecke – und viele Menschen, die ihn in all den Jahren nicht vergessen haben.

* Nachname der Redaktion bekannt.