Theater: Die Bühne ist eine Schneekugel
Die verstärkten Angriffe von rechts auf alles Linke heissen nicht umsonst Kulturkampf. Wie reagiert «die Kultur» im Theater darauf? Was wirkt schon heute alt, was umso frischer? Beobachtungen aus dem deutschsprachigen Bühnenfrühling.

Das Theater macht den Eindruck, als sei es verstört. Warum sollte es ihm anders gehen als seinem Publikum? Die Kunst kann darauf auf viele Arten reagieren. Sie kann die Verstörung über die Polykrisen abbilden. Oder sie kann in diesem Chaos am Horizont versuchen, eine Haltung einzunehmen (die morgen schon wieder komisch wirkt und Gefahr läuft, das Publikum zu belehren). Oder aber sie kann das Verhältnis von Kunst und Publikum grundsätzlich befragen und so versuchen, aus der Verstörung und aus der Starre ins Offene zu finden. Letzteres macht seit Anfang Mai «Also sprach Zarathustra» im Schiffbau des Schauspielhauses Zürich.
Der lange Abend von Regisseur Sebastian Hartmann nach der Vorlage von Friedrich Nietzsche inszeniert auch viel Text in hochkonzentrierter Form, das ist die Vertikale des Abends. In der Horizontalen, in der ganzen Breite und Länge der Halle, sind die viereinhalb Stunden aber eher ein Happening, ein Versuch, gemeinsame Erfahrungen herzustellen. Man kann rein- und rausgehen, man kann zwei Mal mittanzen, Getränke reinnehmen und dabei üben, anders auf Theater zu schauen. Ob das immer gelingt, ist eine andere Frage. Aber der Eindruck ist deutlich: Das Theater taumelt, und es will diese Erfahrung teilen. Nicht gleich ein neuer Mensch wird da gefordert wie bei Nietzsche, aber man sucht den neuen Zuschauer, die neue Zuschauerin.
Im Theater sitzt man fest
Denn der Druck ist gross, das Paradox gewaltig. Die Sparbefehle und die politischen Anfeindungen in der westlichen Welt wollen zum einen die Künste entwerten, wo der Kapitalismus das nicht schon selbst geschafft hat wie in der Musik, von der nur noch eine dünne Oberschicht leben kann. Zum andern werden gleichzeitig manche Künste mit ungeheurer Bedeutung aufgeladen, als würde sich da der Endkampf einer westlichen Zivilisation zeigen. Es heisst nicht umsonst Kulturkampf, was die Rechten auf diesem Gebiet veranstalten, wenn sie der Linken ihre angebliche Vorherrschaft streitig machen wollen. Weniger Geld, aber mehr Gewicht: Das ist die neue Lage.
Das Theater erreicht zwar nicht so viele Leute wie Filme bei Streaminganbietern. Aber die Livekunst Theater, oft in öffentlich finanzierten Häusern, fordert den Kulturkampf direkter heraus als jede andere Kunst. Durch die Kunstgalerie läuft man in einer Viertelstunde, den Film kann man zu Hause unterbrechen, die Musik versäuft im Rauschen des Überangebots. Im Theater sitzt man erstens fest, und es ist zweitens teuer, für das Publikum wie für die Steuerzahler:innen. Wie drauf reagieren, im Publikum, auf der Bühne?
Früher gehörte es zur Theaterfolklore, dass das Publikum sein Missfallen schon vor dem Applaus mit vereinzelten Zwischenrufen kundtat. Besonders in Berlin, der Theaterhauptstadt im deutschsprachigen Raum. Ein Teil der Zuschauer:innen wollte damit sagen: Wir dulden nicht jeden Quark auf der Bühne. Schon gar nicht, wenn die Inszenierung nicht aus Berlin kommt, wie beim alljährlichen Theatertreffen im Mai, wenn eine unermüdlich reisende Jury zehn Arbeiten einlädt, die während gut zweier Wochen in der Hauptstadt gastieren. Hier zu spielen, war für viele wie eine zweite Premiere. Manche fühlten sich erfrischt vom kritischen Geist der Stadt, andere genervt von ihrer Selbstüberhöhung – beides war nie ganz falsch. Aber ja, früher wurde mehr geschimpft im Publikum. Lange her, oder?
Etwas mehr Höflichkeit
Beim Theatertreffen-Gastspiel von «Double Serpent», einem Stück über die schmale Grenze zwischen hartem Sex und Missbrauch aus dem Staatstheater Wiesbaden, wanderten viele in der ersten Hälfte der gut zwei Stunden ab. Ohne Zwischenrufe zwar, aber die engen Sitzreihen im Haus der Berliner Festspiele führten jedes Mal zu Unruhe, wenn jemand den Saal verliess. Am Ende gab es ein paar Buhs. Auch sie verschwinden sonst aus den Theatersälen. Weil wir online so viel Missgunst sehen, probieren wir im Theater etwas mehr Höflichkeit.
Was war da los? Schwuler BDSM-Sex auf der Bühne, wie angedeutet auch immer, unklare Grenzen im Stück, ob das noch Spiel oder schon Missbrauch sei, lasziv langsam sprechende Männer, die jeden Dialog als potenzielles Bettgeflüster klingen lassen oder eben als Drohung: zu viel für viele. Den einen ist es zu toxisch, den andern halt zu homosexuell, manchen beides. Etwas gar kunstreligiös ist es auch, wenn jeder verlangsamte Schritt auf der Bühne verstärkt nachhallt wie ein Horrorfilm auf Heroin. Aber die Inszenierung von Ersan Mondtag verrät etwas über die dringlichen Aufgaben des Theaters.

Sie hatte im September Premiere; geschrieben hatte das Stück der US-Autor Sam Max als Auftragsarbeit für Wiesbaden. Schon jetzt spricht dieser Abend, aber auch alle anderen eingeladenen Inszenierungen wie aus einer anderen Zeit zu uns. Sie wurden erdacht, bevor Donald Trump zum zweiten Mal Präsident werden sollte, und erst recht, bevor er im Eiltempo mit Angriffen auf die Linke, auf Liberale, auf die Kultur, auf die Demokratie maximales Chaos schuf.
Dieser massive Rechtsrutsch hat das Klima in jedem westlichen Land abermals radikalisiert, erst recht in Deutschland, dem wichtigsten Markt des deutschsprachigen Theaters. Die in ihrer Radikalität politisch lesbaren Sparvorgaben für die Kultur in Berlin und auch im bevölkerungsreichsten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, das AfD-nahe Kulturprogramm im CDU-Bundeswahlkampf und die ständigen Anfeindungen durch die vom Verfassungsschutz nun gesamthaft als rechtsextrem eingestufte AfD bis hin zu anonymen Drohungen: Theater ist heute alles andere als ein Safe Space. Der Ton wird rauer.
Das betrifft auch das Verhältnis zum Publikum. Sagt es jetzt wieder mehr, und dies lauter, weil es denkt, wieder mehr sagen zu dürfen? Als hätte man das vorher verboten? Und welche Kunst ist nun dafür gewappnet, diese Kämpfe nicht nur zu überstehen, sondern auch, sie mit dem Publikum zu überschreiten und im Theaterraum einen neuen Kunstvertrag zu schliessen? Eine Verabredung zu finden, die auf den harschen Wind von rechts krisenfester reagiert? Mit dem Blick einer Archäologin der jüngsten Vergangenheit erscheinen viele Theaterabende wenige Monate nach ihrer Premiere in einem anderem Licht.
Schneefall über dem Pool
Warum es immer wieder schneit in Ersan Mondtags Inszenierung der schwulen Erotik und des Schmerzes, warum die Bühne an amerikanischen Jugendstil erinnert? Könnte es sein, dass dies nebst einer Fährte in das Stück auch ein Bild ist wie die Schneekugel in einem Filmklassiker, der sich 1941 mit einer Figur anlegte, die mit dem Trump unserer Tage vergleichbar ist? In «Citizen Kane» fühlte der damals erst 25-jährige Regisseur und Hauptdarsteller Orson Welles der Biografie des machtbesoffenen Verlegers William Randolph Hearst nach, der die Demokratie mit seinen Massenmedien untergraben wollte, Paläste baute, zwanghaft Dinge anhäufte und Frauen manipulierte.
Der – tatsächliche oder vermeintliche – Schlüssel zum Film ist sein letztes Wort auf dem Sterbebett, das wir schon am Anfang hören, nämlich «Rosebud», und die Schneekugel, die er in den Händen hält. Welles legt am Ende zwei Dinge nahe: dass die Störung von Kane/Hearst erstens auf eine kindliche Szene im Schnee zurückgeht, als seine Mutter ihn buchstäblich verkauft, während er draussen mit dem Schlitten spielt, auf dem «Rosebud» steht. Zweitens sagt der Film auch, dass man ein Leben nicht auf ein Rätsel reduzieren könne, auch nicht auf die kindliche Kränkung, verstossen zu werden, die dann ein Leben voller Grossmannsucht bestimmen soll. Es gibt Wege aus dem Schicksal. Und selbst darüber lacht «Citizen Kane» immer wieder, der Film ist auch eine Show der Illusionen und der endlosen Attraktionen. (Welles war zum Zeitpunkt von «Citizen Kane» noch ein reiner Radio- und Theatermann, von Film hatte er wenig Ahnung.)
Zurück beim Berliner Theatertreffen 2025, verweist der Schneefall über einem runden Indoorpool in «Double Serpent» zum einen auf das Trauma der Hauptfigur Connor, das zunächst nicht klar benannt werden kann und vom Schnee quasi verschleiert wird. Connor steckt selbst in der Schneekugel, die Orson Welles in «Citizen Kane» noch in den Händen hält. Zum andern ergreift Connor die Möglichkeit, in dieser vermeintlichen Vorbestimmung einen selbstbestimmten Platz zu finden.
Und das ist im Kern eine der Aufgaben des Theaters: An die Geschichte zu erinnern, aber nicht in ihr zu ertrinken, sondern wieder ans Ufer der Gegenwart zu gelangen. Wenn nun aber die Beziehung zwischen Theater, Politik und Publikum so enorme Kräfte entwickelt wie allein in den letzten Monaten, könnte man darüber sprechen, wie das dem Theater gut gelingt und wie weniger. Ob es der Welt mit düster dräuender Depression begegnen soll, mit Spektakel, Empowerment, mit überraschenden Effekten oder mit Wiederaufführungen?
Zum Auftakt ein Bussgang
Eröffnungsreden sind meistens Schaum – diese nicht. Matthias Pees, Intendant der Berliner Festspiele, liess erst den 2019 verstorbenen Zürcher Schauspieler Bruno Ganz mit Hölderlin «vom Abgrund» sprechen, bevor er das Rednerpult betrat. «Willkommen im Abgrund», begann Pees, allerdings um damit zu sagen, dass man an diesem Ort das Gröbste schon hinter sich habe und einen Ausweg finden werde. Er meinte damit den rechten Backlash und die Angriffe auf die Kultur. Pees warb für Standhaftigkeit, ja Radikalisierung des Theaters, um den Abgrund nun erst recht auf der Bühne darzustellen. Was im Anschluss zu sehen war, diente allerdings zur abschreckenden Illustration seiner Thesen: anderthalb Stunden Abgrund und Dauerdepression mit Katie Mitchells Inszenierung von «Bernarda Albas Haus», eher nach als von Federico García Lorca. So eröffnet man in Deutschland ein Festival: als Bussgang.
Bernarda Alba ist die Mutter von fünf Töchtern, die sie nach dem Tod ihres Mannes in ihrem Haus einsperrt. Draussen wütet der Mob am Vorabend des Spanischen Bürgerkriegs. Bei Katie Mitchell dräut in der Musik andauernd Gefahr, der Tonfall ist panisch oder zornig, vor den Toren hört man die viel zitierte toxische Männlichkeit. Schuld an diesem katholisch verbrämten Schreckensmatriarchat, wie es Mitchell und Co. für das Hamburger Schauspielhaus erfunden haben, sind irgendwie die abwesenden Männer. Und am Ende schrieb die Autorin Alice Birch dem historischen Stück noch einen kollektiven Selbstmord rein. Unheimlich, wie diese auf der Stelle tretende Inszenierung die an sich interessante Rede vom Abgrund abbildet, den man zu durchschreiten habe. Und damit beweist, wie ungenau und auch selbstgerecht diese Haltung wirken kann.
Denn wer das Bild vom Abgrund zeichnet, wenn der politische Wind erst gerade dreht, wer sich bereits in der Katastrophe wähnt, macht sich kein Bild von der Katastrophe, sondern vorerst nur von der eigenen Kränkung, auf Widerstand zu treffen. Das rasch gepinselte Bild des Abgrunds entspricht einer spezifisch deutschen Sicht auf die Geschichte und auf die Künste, besonders im Theater, als gäbe es eine Kontinuität zwischen der Epoche der Romantik vor mehr als 200 Jahren und der hochsubventionierten schlechten Kunstlaune auf deutschen Bühnen. Diese Haltung läuft Gefahr, Pose zu sein und die Dinge auch ohne Analyse gleich zu dramatisieren, wie der Volksmund sagt. Und was will uns dieser bei Mitchell noch verschärfte Extremkatholizismus des bald hundertjährigen Stücks sagen, der jede Frau in den Heimknast schickt?
Von der Bewegung her denken
Dieser very German way wirkt schon ein paar Monate nach der Premiere von vorgestern. Wie man aus solchen Verpanzerungen herauskommen kann, zeigte die Inszenierung eines Stücks, das fast genau gleich alt ist wie «Bernarda Albas Haus» und im nun ausgebrochenen Spanischen Bürgerkrieg spielt. Wer hätte gedacht, dass ein Text wie Bertolt Brechts «Die Gewehre der Frau Carrar», mit Margarete Steffin geschrieben und 1937 in Paris uraufgeführt, mit ein paar verblüffenden Eingriffen zu den intensivsten fünfzig Minuten im Theater seit langem werden würde?
Regisseurin Luise Voigt lässt die Schauspieler:innen des Münchner Residenztheaters ein Deutsch mit rollendem R sprechen, wie es in den Dreissigern im Theater noch üblich war, zum Beispiel bei der Münchner Jüdin Therese Giehse, die den Krieg im Schauspielhaus Zürich überstand. Und die kleinen Mikrofone verzerren den Klang leicht kratzend, als käme er von einer Schellackplatte, dem Vinyl der Vorkriegszeit. So scheint die Geschichte der Witwe Carrar, die die Gewehre ihres gefallenen Mannes versteckt, um sie nicht den Soldaten geben zu müssen, die gegen Franco kämpfen, von sehr weit her zu uns zu sprechen.
Die Nähe schafft der Text ganz allein: Soll sie ihre Söhne vom Krieg fernhalten oder selbst mit ihnen an die Front ziehen? Gibt es Neutralität in einem solchen Konflikt, oder ist schon sie automatisch Parteinahme? In Deutschland versteht jede:r sofort, dass hier die ukrainische Gegenwart anklopft, die Fragen nach Waffenlieferungen (auch jene an Israel). Wenn nach gut fünfzig Minuten das historisierende Fischerhaus aus Holz zusammenbricht und ein aktueller Text gespielt wird, «Würgendes Blei» von Björn SC Deigner, der Brecht weiterschreiben will, verpufft die Anspannung sofort. Aber das ist nicht so schlimm, denn die knappe Stunde davor war ein Meisterinnenwerk an unheimlicher Spannung, an Distanz und gleichzeitiger Nähe.
Was die interessantesten Vorschläge des Theaters für eine Zeit im und nach dem Kulturkampf eint: Sie zeigen bewegte Körper, sie haben Eleganz, sie sind fast oder sogar ganz tänzerisch. In «Die Gewehre der Frau Carrar» arbeiteten die Schauspieler:innen mit der Biomechanik des russischen historischen Avantgardisten Wsewolod Meyerhold, der die Figuren stark von der Bewegung statt von der Psychologie her dachte.
Die Details sind kompliziert, das Resultat aber einfach: Man sieht ein Ensemble, das zu wogen scheint, jede Bewegung hat einen Anlauf, eine Ausführung, eine Reaktion. Das vermittelt sich ein Stück weit sogar in der TV-Aufzeichnung von 3sat. Zwei weitere Einladungen und auch ausserhalb des Festivals sichere Publikumshits dieser Saison sind sowieso Tanz: «Sancta» von Florentina Holzinger und «Kontakthof – Echoes of ’78» nach der historischen Arbeit der wohl wichtigsten deutschen Choreografin des 20. Jahrhunderts, Pina Bausch, die 2009 verstarb.
Untenrum frei
«Kontakthof» von 1978 ist eine der bekanntesten Beispiele für das Tanztheater von Bausch, mit dem sie Wuppertal weltberühmt machte. Heute sieht man gut, dass Christoph Marthaler einiges von ihr gesehen haben muss; «Kontakthof» zum Beispiel war 1983 gleich in vier Schweizer Städten zu sehen, und die knapp dreistündige Produktion tourt bis heute, allerdings mit stets jungen Tänzer:innen. In den «Echoes of ’78» stehen aber neun Tänzer:innen der ursprünglichen Inszenierung auf der Bühne und tanzen und spielen noch mal Teile der Originalchoreografie, während digital restaurierte, aber auch so schummrige Filmaufnahmen davon auf Gazevorhängen flackern. Wen die Alten nicht rühren, hat wohl kein Herz. Man sieht so was selten bis nie (ausser in Florentina Holzingers eben erst uraufgeführter Produktion «A Year without Summer»).
Der Effekt verpufft nach einer halben Stunde, die Inszenierung weiss nicht so recht, wie sie mit der Differenz von damals und heute umgehen soll, ausser einfache Gefühle des Vergangenen zu feiern. Aber eine interessante halbe Stunde ist besser als drei nervtötende. Und da reichen im Prinzip die alten Körper, die das gleiche Problem in langen Loops und Polonaisen, in Paartänzen mit und ohne Partner:in darstellen wie 1978: Es kann verdammt einsam sein unter Leuten, auch auf einem Dancefloor, der die Geschlechterunterschiede und ihre Gewalt nicht ausblenden kann. Das ist radikal weniger in einem politischen als in einem künstlerischen Sinn.
Wenn die populärste Produktion das Theatertreffen eröffnet hätte, Holzingers «Sancta», hätte die Rede über den Abgrund sehr einsam im Raum gestanden. Die aktuell in Europa hofierteste Regisseurin und Choreografin zeigt immer nur Aufbrüche und Aneignungen, um das abgenutzte Wort «Empowerment» zu vermeiden, und kennt den Schmerz praktisch nur als Lustquelle. Ob sie in der ersten halben Stunde Paul Hindemiths Kurzoper «Sancta Susanna» mit Sängerinnen aus dem Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin inszeniert, während an einer Kletterwand hinten lesbische Paare bereits Sex haben, oder ob danach eine gut zweistündige Messe von queerfeministischer Liebe und, pardon, Empowerment folgt, ist inhaltlich gar nicht so zentral.
Man sieht ihren Arbeiten auch die Lust an der Virtuosität an, grosse Bilder zu bauen. Die stets nackten Frauen* werden an der Kletterwand wie beiläufig zu Gekreuzigten. Nonnen, untenrum frei, fahren auf einer Halfpipe mit Rollschuhen hoch und runter, als wäre die Bühne selbst ein erotisches Objekt. Der Glockenklöppel dieser Kirche der Lust ist eine Tänzerin, die hoch in der Mitte kopfüber baumelt. Und die Engel, die durch die Luft fliegen, hängen an Haken, die durch ihr Rückenfleisch gezogen wurden.
Der Kulturkampf wird hier nicht kommentiert. Holzingers Kunst kennt diese Kategorie nicht, es scheint sie einfach nicht zu interessieren. Auch deshalb wirken ihre Abende so mächtig, weil sie so viel einschliessen können: Kritik an der Kirche, die Lust an der Messe, an ihren Bildern, an der Verschwendung und am Spass.
Kein vorauseilender Gehorsam
Es gibt also drei Typen des Theaters, die unterschiedlich gut für die unmittelbare Zukunft gerüstet sind, in der die Kulturkämpfe noch einmal zunehmen werden. Die romantische Todessehnsucht, an der irgendjemand anderes schuld ist, steht auf wackligen Füssen (wie «Bernarda Albas Haus»). Der vergleichende Blick in die Theatergeschichte schärft derweil die Aufmerksamkeit für die Gegenwart, die nicht in allem so unvergleichlich ist, wie wir in der disruptiven Digitalisierung gerne denken («Kontakthof – Echoes of ’78» und «Die Gewehre der Frau Carrar»). Und es gibt Solitäre wie «Sancta» und auch den Zürcher Nietzsche-Abend, die keine klare Agenda mehr haben und eher gemeinsame Erfahrungen schaffen.
Die Schneekugel, die man in «Double Serpent» sehen kann, ist derweil auch eine Warnung für das Theater. Zumindest wenn man sie als Rückgriff auf «Citizen Kane» begreift und nicht nur als Zeichen für die verschneite Nacht, in der das Trauma der Hauptfigur Connor begraben liegt. Denn der erst später zum Jahrhundertfilm erklärte «Citizen Kane» floppte zunächst. William Randolph Hearst musste gar keinen Druck ausüben, den Film zu verbrennen oder ihn nicht in die Kinos zu schicken. Der Filmvertrieb sabotierte den Film, um den Zorn des Medienmagnaten nicht auf sich zu ziehen: in vorauseilendem Gehorsam.
Das ist immer die grösste Bedrohung der Kunst, sie kommt von innen, produziert von der Angst. Deshalb hat die schwierige, ambivalente Rhetorik des Abgrunds auch wieder recht, wenn sie bedeutet, in der Krise nicht vorauseilend versöhnliches Theater zu machen. Obwohl ein vertanztes AfD-Programm für einmal bestimmt ganz lustig wäre.