Das Reportagenprojekt

Wie Heringe auf einer Atlantikbarke

Die Zürcher Langstrasse ist die wohl bekannteste Schweizer Ausgangsmeile. Nicht nur die Pandemie macht den LokalbetreiberInnen zu schaffen, sondern auch die Aufwertung. Ein nächtlicher Streifzug.

Das «Langstrassengefühl» kriecht langsam in den Fokus unserer Wahrnehmung: Das Gefühl, der Eifer und der Geselligkeit – gemischt mit einer Spannung und einer Prise Angst. Doch es fühlt sich nicht an wie sonst. Wir fühlen uns fast schuldig dafür, dass wir an diesem Abend im Dezember 2020 an einen Ort der Geselligkeit und des unvermeidbaren sozialen Kontakts gekommen sind.

Die aktuelle Zahl der mit dem Coronavirus infizierten Personen im Kanton Zürich liegt bei 48 217 – und ist heute um 975 gestiegen. Der Bundesrat untersagte Ende Oktober das Betreiben von Diskotheken, Tanzlokalen sowie sämtliche Tanzveranstaltungen. In Bars und Restaurants darf eine Gästegruppe höchstens vier Personen betragen. Es gilt eine Sperrstunde von 23 bis 6 Uhr. Speisen und Getränke dürfen nur im Sitzen konsumiert werden. Zusätzlich sind spontane Menschenansammlungen von mehr als fünfzehn Personen verboten.

Zu unserer Erleichterung sind deutlich weniger Leute unterwegs wie man sich das sonst an einem Freitagabend gewöhnt ist. Viele Lokale sind geschlossen, doch trotz der Umstände sind viele Menschen zu sehen. Wir schlendern auf der Suche nach einem belebenden Glühwein bei «SO Pizza» vorbei zum «Schwarzen Schaf», am Fuss der Langstrasse, das auf dem Trottoir einen Stand aufgestellt hat. Auf die Frage, ob es möglich sei, mit der Karte zu zahlen, antwortet der witzige Angestellte mit «Aber sicher! Wir nehmen alles ausser Bitcoin!». Sie sind wahrscheinlich wirklich froh um alles was sie bekommen. Jeder Betrieb, der seine Türen geöffnet hat, ist voll. Gäste sitzen wenn möglich auch im Freien. Falls nicht, ist das auch nicht so schlimm. Es hat ja schliesslich Trennwände.

Das «Schwarze Schaf», «ACID», «Hooters» und das kleine Lokal «Metzg» sind alle besetzt. Ein Mann mit schwarzem Hut hat uns durch das Fenster entdeckt, lacht vergnügt und winkt uns aus der ebenfalls gut besuchten «Gotthard Bar» zu. Dort spielt sogar eine Band. In der «Metzg», die hauptsächlich Fleischspeisen serviert, haben sie als «Schutztrennung» weisse Plastikvorhänge installiert, die ironischerweise an einen Schlachthof erinnern.

Es scheint, als hätte sich die Gesellschaft hinsichtlich des Nachtlebens völlig an das «New Normal» gewöhnt. Niemand will in Isolation, auf den Ausgang verzichten will keiner mehr. Solange man eine Maske an der Bushaltestelle trägt, macht es das Ansteckungsrisiko scheinbar passabel. Eine pinke Hummer-Limo fährt an uns vorbei. Gequält ertragen wir kurz das Kreischen einer Frau und das Lied «Disco, Disco! Party, Party!», das aus den offenen Fenstern dröhnt. Vielleicht hat sich doch nicht so viel geändert?

Stichwaffen und Glasbongs

Wir gehen weiter in Richtung Limmatplatz und besuchen «Werner’s Headshop» vis-à-vis des abgedunkelten «El Presidente Bar und Disco». Nur kurz sprechen wir mit Sarah, der anwesenden Praktikantin, als plötzlich eine Frau ihr Fahrrad direkt vor dem Headshop abstellt und keuchend hereinplatzt. Kaum vernehmlich fragt sie nach einer gläsernen Bong mit einem Ersatzkopf. Sie streut nervös und am ganzen Körper zitternd ihre ganze Asche auf den Tresen. Während sich Sarah den Geldbetrag zusammenknetet, drücken sich entspannt zwei Männer am Fahrrad vorbei und betreten den Headshop. Sie gehen direkt zu den ausgestellten Stichwaffen.

Sarah wickelt die Bong und den dazugehörigen Kopf sorgfältig in Luftpolsterfolie. «Sind das alle Messer, die Sie haben?» fragt einer der beiden Männer. Die Praktikantin nickt: «Ja, sorry». Als die Frau schlussendlich ihren Einkauf vervollständigt hat, stolpert sie aus dem Headshop und fällt beinahe über ihr eigenes Fahrrad.

Die Praktikantin hängt wieder an unser Gespräch an, als hätte es keine Unterbrechung gegeben. Wir spüren jedoch, dass sie eigentlich gar nicht mit uns sprechen möchte. Seit Anfang der Pandemie seien spürbar weniger Menschen an der Langstrasse unterwegs sind. Das sei vor allem nach Beginn der Sperrstunde um 23 Uhr nicht übersehbar. Scheinbar halten sich die Leute an diese Sperrstunde. Grosse Veränderungen sind ihr jedoch nicht aufgefallen. Die Langstrasse sei «ein lebendiges Quartier» – das Understatement des Jahres.

Das Einsatzvolumen der Stadtpolizei Zürich an der Langstrasse und Umgebung hat sich laut Kreischef 4, Andreas Venzin, seit Ausbruch der Pandemie nicht gesteigert. Veränderung ist jedoch in der Natur der geleisteten Einsätzen zu spüren. Es seien vor allem Lärmbeschwerden und Berichte von Verstössen gegen die Corona-Massnahmen, die die Aufmerksamkeit der Stadtpolizei auf sich ziehen. Es scheint, als gäbe es in der Tat besorgte Bürger, die die Ordnungsmacht spekulativ über brechend volle oder sperrstundenverletzende Lokale alarmiert.

Das Warten der Taxifahrer

Um 21 Uhr erreichen wir die Höhe des geschlossenen «Bagatelle Clubs» und der geöffneten «Longstreet Bar». Hier ist was los. Vor dem «Palestine Grill» stehen die Menschen schlange, Leute gehen kreuz und quer über den kleinen Platz. Ältere Männer wimmeln Prostituierte ab, Türsteher glotzen skeptisch ins Geschehen und aus den offenen Fenstern eines Poser-BMWs erklingt «Last Christmas». Von irgendwo hört man einen Mann «He, du Wichser!» schreien.

Von den geschätzten 13 000 bis 25 000 SexarbeiterInnen, die in der Schweiz tätig sind, wurden alle von der Pandemie schwer getroffen. Die gesetzlich geforderte Aufnahme der Kontaktdaten von Kundinnen und Kunden, wirkt häufig auf potenzielle Freier abschreckend. Auch das Taxigewerbe ist von der Pandemie betroffen: Gleich hinter der Ecke vor der geschlossenen «Bar 3000» steht eine endlose Reihe von Taxis, die auf Kundschaft wartet. Wir sprechen einen an ein Taxi lehnenden, graumelierten Fahrer an. Im selben Taxi sitzt ein weiterer älterer Fahrer mit einer Maske, eingewickelt in einem babygelben Schal und einer dazu passenden Mütze. Der ältere ist ehemaliger Architekt und hat das Fenster nur einen Spalt geöffnet. Er berichtet uns von Geldmangel. So auch der Graumelierte mit türkischem Akzent: «Fünf Stunden lang einfach nur warten und dann mal eine Fahrt für zehn Franken. Das ist ärgerlich.»

«Kantonspolizei Zürich, Ausweiskontrolle!» Murat ist kein Polizist. Er trägt schicke Trainerhosen, Nike Sneakers und einen etwas abgenutzten Parkamantel. Maskenlos stellt sich der gut aussehende und exzentrische Taxifahrer in den Mittelpunkt des Geschehens. Er blubbert in seinem Monolog über Verschwörungstheorien, erzählt Geschichten seiner Frau und landet bei seinem neulich rasierten Bart, wobei er uns stolz ein paar Oben-ohne-Selfies präsentiert.

Von Murat erfahren wir, dass es wirklich nicht einfach ist als Taxifahrer. Schon gar nicht in einer Pandemie. Laut Murat ist eine Ansteckung mit dem Coronavirus nicht die grösste Sorge eines Chauffeurs während der Fahrt. Er berichtet von Übergriffen, Drohungen, Morden und Körperflüssigkeiten. Worauf die anderen beiden Chauffeure manchmal die Augen verdrehen — wahrscheinlich schmunzeln sie unter ihrer Maske. Bezüglich der Pandemie sind sich aber alle sichtlich einig: Es geht ihnen deutlich schlechter. Die Arbeit ist mager und die Tage sind lang.

Echt abgespaced

Unser Gedankenschwamm ist voll, und uns ist kalt. Wir beschliessen uns kurz im «Kosmos» zu sammeln. Die Kino-Bar-Restaurant-Bibliothek erscheint wie eine Oase neben der Langstrasse. Aus dem lautem, kalten und hektischen Strassenleben gelangen wir durch eine Tür in einen entspannenden Lo-Fi-Traum und versinken in einem weichen Ledersofa. Eine adäquat angezogene Bobo mit einem Notizblock unter dem Arm stolziert an einem mit Weihnachtslichter bestücktem Holzraumschiff vorbei. Das alles gerade mal 50 Meter von Murat und seinen Problemen entfernt — echt abgespaced.

Nun regnet es in Sodom. Im 24-Stunden-Geschäft «Take Express Shop» gönnen wir uns unter aufmerksamen Augen der Angestellten einen Club-Mate. Auf die Frage, wie es denn so läuft, antwortet Kassier Stephan: «Wie soll ich sagen: Man überlebt.» Er berichtet, dass der 24-Stunden-Shop zum Glück von der Pandemie ziemlich verschont geblieben ist, weil das Geschäft nach dem Zapfenstreich von konsumgierigen Piranhas überschwemmt werde.

Seit sechs Jahren arbeitet Stephan täglich an der Langstrasse und hat noch nie so viele Wechsel gesehen: Neuigkeiten von Unternehmen, die schliessen müssen oder kurz davor sind, gehören zurzeit zum Alltag. Laut Stephan wolle man, abgesehen von den Strapazen der Pandemie, die Gegend laufend «aufwerten». Die Schliessung der «Rothausbar», in der WOZ thematisiert, scheint dafür ein Beweismittel.

Die Sars-2-Pandemie beschleunigt so eine Entwicklung, die schon seit längerem im Gang ist. Die Langstrasse wird Stück für Stück von coolen Fusion-Cafés und Szeni-Bars gefressen. Mit einem freundlichen Falten seiner Hände verabschiedet sich Stephan: «Tschüss miteinander, hat mich gefreut». Wieder mit der Strasse vereint erkennen wir Queen’s «Another One Bites the Dust» aus der Entfernung — ein Hoch auf die Gentrifizierung!

Sperrstunde

Um 23 Uhr ist aus. Die Menschen, die sich versammelt haben, werden alle gleichzeitig wie ein Eimer voller Heringe auf dem Deck einer Atlantikbarke aus den Bars und Lokalen geschmissen. Auf einmal wird die Langstrasse so lebendig, wie man es sich gewöhnt ist an einem Freitagabend. Man versteht sich kaum untereinander und Gruppen singen lauthals auf der Strasse. Die Leute strömen aus den Bars, tragen dabei ihre Rest-Drinks in Take-Away-Bechern und schlendern in alle Richtungen. Fahrräder werden aufgeschlossen und Abschiedsküsse werden verschenkt. Die Langstrasse kommt nun zur Ruhe. Vorerst.