Der WOZ-Blog zum Ukrainekrieg

«Alle müssen heizen können»

Herman Haluschtschenko
«Es herrscht Krieg. Danach können wir bei der grünen Wirtschaft konsequenter sein»: Herman Haluschtschenko Foto: Alessandro della Valle, EDA, Keystone

Der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko erklärt bei der Ukrainekonferenz in Lugano, wie er im Krieg die Energieversorgung sichern will. Und warum er neue Atomkraftwerke plant.

WOZ: Herr Haluschtschenko, der russische Angriff auf die Ukraine ist auch ein Krieg um Energie, der ganz Europa betrifft. Was sind für Sie als Energieminister die drängendsten Fragen?

Herman Haluschtschenko: Mit der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl und russischer Kohle sind wir schon lange konfrontiert, denn die Ukraine befindet sich seit 2014 im Krieg. Wir wissen seit Jahren, dass man gar nichts machen kann, wenn Russland von einem Tag auf den anderen plötzlich die Lieferungen stoppen sollte. Für Europa ist das aktuell die drängendste Frage. Russland versucht, durch Ressourcen wie Gas die Solidarität zwischen den europäischen Ländern zu brechen. Es gibt eine lange Geschichte dieses russischen Stils, auf andere Länder Einfluss zu nehmen. Wir haben unseren europäischen Partnern schon beim Bau der Pipeline Nord Stream 2 gesagt, dass mögliche Profite Russland nicht von einer Einflussnahme abhalten. Die Russen sind bereit, Geld zu verlieren, um politische Vorteile zu erhalten.

Was ist aus ukrainischer Sicht die grösste Herausforderung bei der Energieversorgung?

Wir bereiten uns gerade auf die nächste Heizsaison vor, was ziemlich schwierig ist. Die letzte endete im Krieg, viele Stromanlagen und die Gasversorgung sind zerstört und derzeit sehr schwierig zu reparieren. Der aktuelle Krieg ist ganz anders als jener, der 2014 begann. Heute werden alle Regionen des Landes beschossen. Das heisst, auch die Infrastruktur ist nicht sicher – ob man nun nahe der Front wohnt oder nicht. Das ist für uns eine grosse Herausforderung.

Wie wollen Sie sicherstellen, dass die Menschen in der Ukraine im nächsten Winter heizen können?

Wir haben schon viele Vorkehrungen getroffen. Doch die entscheidende Frage ist natürlich, wie lange der Krieg weitergeht. Grundsätzlich weiss ich, welche Ressourcen wir haben – aber ich weiss nicht, ob sie uns im Herbst zur Verfügung stehen werden. Das AKW in Saporischschja etwa, das grösste in Europa, ist unter russischer Besetzung, aber versorgt weiterhin das ukrainische Energiesystem. Wie es auf den Winter hin sein wird, wissen wir nicht. Oder was mit den Wärmekraftwerken passiert – wir haben im Osten schon einige verloren. Oder mit der Kohleproduktion, der Situation beim Gas. All diese Fragen hängen vom Krieg ab. Ich hoffe natürlich, dass wir unsere Gebiete und Anlagen zurückerobern können und dann die besten Voraussetzungen für eine gute Versorgung haben.

Sie haben das AKW in Saporischschja angesprochen, das zu Beginn des Krieges unter Beschuss geriet. Wie ist die Situation für die Arbeiter:innen dort, wie steht es um die Sicherheit?

Nur schon daran zu denken, tut mir weh. Der Angriff war schrecklich. Ich kann nicht glauben, dass jemand im 21. Jahrhundert ein AKW angreift. Da braucht man gar keinen Atomkrieg mehr. Als die Russen Saporischschja in der Nacht vom 3. auf den 4. März beschossen, haben sie auch fast ein Lager für benutzten Kernbrennstoff getroffen. Unsere Aufsichtsbehörde hat berechnet, dass es ein Desaster hätte geben können: Eine Atomwolke hätte entstehen können, und es wäre auf den Wind angekommen, in welche Richtung sie gezogen wäre.

Im Moment arbeitet ein ukrainisches Team dort, und die Anlage liefert Strom fürs ukrainische Netz. Schwierig ist, dass die russische Armee jetzt die Leute zwingen will, für den russischen Staatskonzern Rosatom zu arbeiten. Generell ist die Stimmung in Enerhodar, wo das AKW steht, proukrainisch. Weil die Mitarbeiter nicht kollaborieren, werden sie physisch bedroht. Zehn bis zwanzig Mitarbeiter wurden mitgenommen und wochenlang versteckt. Sie wurden geschlagen und zu einer Unterschrift gezwungen, dass sie für Rosatom arbeiten wollen. Gestern wurde ein Mitarbeiter umgebracht, weil er sich geweigert hat zu tun, was sie wollten. Sie haben ihn verprügelt, woraufhin er im Spital starb: «russian style». 

Sie haben die grosse Gefahr beschrieben, die von AKWs in einem Krieg ausgeht. Dennoch haben sich vor einigen Wochen das ukrainische Staatsunternehmen Energoatom und der US-Konzern Westinghouse auf den Bau von neun neuen Atomreaktoren verständigt. Wie rechtfertigen Sie dieses Projekt vor dem Hintergrund des Angriffs auf Saporischschja?

Die heutige US-Technologie ist viel weiter als die der sowjetischen AKWs. Ein Reaktorunfall ist also beinahe unmöglich. Aber unabhängig von der Technologie, die man benutzt, kann militärische Aggression eine Gefahr darstellen.

Deswegen fragen wir: Die Gefahr einer militärischen Aggression ist real.

Die Ukraine gewinnt mehr als die Hälfte ihrer Energie aus Atomkraftwerken, wir können nicht einfach so aus der Technologie aussteigen. Und auch in der EU verändert sich die Position, Atomenergie gilt nun als nachhaltig.

Sollen die neuen AKWs primär die Ukraine mit Energie versorgen, oder wollen Sie auch Elektrizität in die EU exportieren, deren Mitglieder stark von russischem Öl und Gas abhängig sind?

Beides ist möglich. Wir haben nach Kriegsbeginn unsere Netze mit der EU synchronisiert und haben nun auch die Möglichkeit, Elektrizität zu exportieren. Wir haben bereits mit einer Startmenge von hundert Megawatt begonnen.

Wie kam es eigentlich zum Deal mit Westinghouse? Kritiker:innen bemängeln, dass die Vergabe nicht öffentlich war und das Parlament nicht mitreden durfte.

Das wird der nächste Schritt sein. Natürlich müssen wir damit noch durchs Parlament, es braucht ein Gesetz, das stimmt. Das dauert sicher eine Weile, denn wir brauchen für die neuen Reaktoren viele Papiere. Und natürlich müssen auch alle Dokumente von der Aufsichtsbehörde überprüft werden. Es heisst also nicht, dass wir direkt mit dem Bau beginnen.

Wie viel soll das Projekt kosten, und wie soll es finanziert werden?

Es ist ein Riesenprojekt, die Durchschnittskosten eines Reaktors liegen irgendwo bei fünf Milliarden US-Dollar. Wir werden wohl einen Kredit der US-amerikanischen Exim Bank brauchen, da hat es schon einige Abmachungen gegeben.

Die ukrainische Regierung ist nach Lugano gekommen, um ihren Plan für den Wiederaufbau vorzustellen. Welche Rolle spielt darin die Energieversorgung, und wie soll diese in Zukunft aussehen?

Natürlich wollen wir weg von der fossilen Energie, das ist die Hauptaufgabe. Aber wir brauchen Zeit dafür. Wir müssen die Kohleproduktion auslaufen lassen und den Anteil der erneuerbaren Energie erhöhen. Da erzielten wir schon vor dem Krieg sehr gute Ergebnisse, wegen der Angriffe haben wir allerdings bis zu neunzig Prozent der Windenergie eingebüsst, weil der Süden des Landes besetzt ist. Und wir haben vierzig bis fünfzig Prozent der Solarenergie verloren. Vor allem im Süden gibt es viel Sonne und Wind, deshalb gewannen wir viele Erneuerbare dort. Ich hoffe, dass wir diese Anlagen nach dem Sieg reparieren können. Insgesamt wollen wir gemäss unserer Strategie ein Viertel der Energiegewinnung durch Erneuerbare ersetzen. In unserem Plan ist auch die Produktion von mehr als dreissig Gigawatt für Wasserstoff vorgesehen.

Umweltorganisationen kritisieren die Politik der ukrainischen Regierung, weil diese weiterhin zu sehr auf fossile Energien setze, statt eine grüne Wirtschaft aufzubauen. Was antworten Sie auf diese Kritik?

Meine Antwort ist: Es herrscht Krieg. Danach können wir konsequenter sein. Aber jetzt ist es meine Aufgabe, dass alle heizen können, da ist es mir egal, ob die Entscheidungen populär sind oder nicht. Ich habe schon viele unpopuläre Entscheide getroffen: So habe ich etwa den Export von ukrainischem Gas und von Kohle verboten – Unternehmen haben recht viel Geld verloren, aber das ist mir egal, wir sind schliesslich im Krieg. Zurzeit denke ich darüber nach, wie ich die Kohleproduktion hochfahren kann, denn wir brauchen diese Kohle.

Wie soll es danach mit der Kohleprodukton weitergehen?

Wir hatten einen ziemlich ambitionierten Plan für einen Übergang, der auch die Situation der Minenarbeiter berücksichtigt und für sie grüne Jobs schaffen soll. Jetzt sind leider viele Minen geschlossen, wir können sie nicht reparieren oder die Produktion wiederaufnehmen. Viele stehen unter Wasser. Ich möchte nicht sagen, dass der Krieg uns bei der Energiewende geholfen hat, aber um ehrlich zu sein: Wir haben viel über die Schliessung von Minen geredet, der Krieg hat sie nun zerstört.

Als grosses Problem der ukrainischen Stromversorgung gilt die mangelhafte Energieeffizienz der Gebäude. Ihre Beheizung erfordert unnötig viel Energie – was die Kosten massiv steigert.

Sie haben recht. Natürlich müssen wir uns überlegen, welche Materialien beim Wiederaufbau verwendet werden sollen. Da viele Städte zerstört sind, können wir nach dem Wiederaufbau nicht mehr auf das alte Versorgungssystem bauen. Wir diskutieren oft mit dem Präsidenten, wie die Städte künftig energieeffizient gemacht werden können. Und noch etwas ist wichtig: Wir müssen bei den neuen Wegen der Stromversorgung auch an die Sicherheit denken, etwa an die Bedrohung durch Raketenangriffe. Wir sollten keine Überlandstromleitungen mehr verwenden. Russland bleibt leider unser Nachbar, wir können ihn nicht einfach ignorieren.

Was sind Ihre Erwartungen an die Lugano-Konferenz? Und was fordern Sie von der Schweiz und den anderen westlichen Staaten?

Mein Ziel ist es, alle davon zu überzeugen, dass man am Beispiel der Ukraine die besten Technologien im Energiesektor ausprobieren kann. Wir sind an Vorschlägen aus dem Ausland sehr interessiert. Es ist dаs Gleiche wie zum Beispiel mit den Waffenherstellern: Um ehrlich zu sein, will hier jeder zeigen, dass seine Waffe effizient ist. Ich möchte zeigen, dass im Energiebereich jeder die Ukraine als Beispiel nehmen sollte.

Was können Länder wie die Schweiz beisteuern?

Wir hatten hier bereits eine Reihe von Treffen mit Schweizer Unternehmen aus dem Energiesektor. Das Gute an meiner Arbeit ist, dass ich ein Minister bin, der eine Menge Vorschriften macht. Während des Krieges haben wir gemäss den Gesetzen zusätzliche Macht. Was ich damit sagen will: Leute, ich habe diese Macht, sagt mir, was ihr braucht! Zum Beispiel braucht es normalerweise ein langwieriges Verfahren, um eine Lizenz oder eine Genehmigung zu bekommen. Aber jetzt kann ich das Verfahren beschleunigen. Sodass wir am Tag nach dem Krieg mit dem Bau beginnen können.

Herman Haluschtschenko ist seit April 2021 ukrainischer Energieminister. Der 49-Jährige studierte Jura und International Management und arbeitet danach in Lwiw als stellvertretender Staatsanwalt. Nach Stationen im Aussen-, Justiz- und Gesundheitsministerium, dem Präsidialamt und als Universitätsdozent wechselte er zum staatlichen Energieunternehmen Energoatom, wo er Vizepräsident war. Das Gespräch wurde am ersten Tag der Konferenz in Lugano geführt.