Frau und Fussball: Oma in der Männerhorde

Ist ein Spiel langweilig, redet Frau auch mal mit der Nachbarin über anderes als über Fussball. Nicole Selmers Buch «Watching the Boys Play» handelt von Frauen, die Männerfussball gucken.

«Wenn man die Masse anguckt, dann sieht man erst mal nur Jungs, und danach merkt man, dass da auch noch ein paar andere Wesen sind» (Geneviève Favé, Hamburger Fanprojekt des HSV). Fussball wird immer noch hauptsächlich von Männern dominiert, gespielt und grösstenteils auch von einem männlichen Publikum konsumiert. Aber es gibt sie trotzdem, diese «anderen Wesen», Frauen nämlich, die ein vitales Interesse bis hin zur schieren Begeisterung für den traditionellen Männersport aufzubringen vermögen.

Die deutsche Autorin Nicole Selmer beleuchtet in ihrem Buch «Watching the Boys Play» weibliche Fussballfans und deren ganz persönliche Liebe zum Fussball. Frauen eben, die Männerfussball gucken und sich zur Sportart auf dem Rasen längst eine eigene Beziehung aufgebaut haben.

Um Missverständnissen vorzubeugen: «Watching the Boys Play» ist kein Rezeptbuch, das mehr oder weniger gelangweilten Beiguckerinnen die Regel der Abseitsfalle ans Herz legen will. Frau erfährt auch nicht, wie sie sich auf schnellstem Weg das Fachwissen aneignen kann, das sie dazu befähigt, bei der kommenden WM in der Männerrunde zu brillieren, das sie in die Lage versetzt, zwischen Bierholen und Brötchenstreichen ganz nebenbei noch einen fundierten Kommentar abzugeben. Dergestalt wurde das weibliche Geschlecht insbesondere vor der letzten EM bereits zur Genüge behelligt. Der «Ersatzbank-Knigge» zum Beispiel lieferte ausgesuchte Tipps zum Turnier in Portugal: «Hier ein bisschen Fachwissen, dort ein cooler Spruch, noch mal schnell die Abseitsregel aufgefrischt und das Pradakleidchen durch ein Ruuuudi-T-Shirt ersetzt, und schon werden Sie und Ihre Freundinnen die absoluten Torschützenköniginnen sein.»

Rosa Girlie-Trikots

Selmer setzt mit ihrem Fussballbuch einen Kontrapunkt zu den gängigen Schlaumeierwissen-für-Anfängerinnen-Fibeln. Gewisse Grundkenntnisse des Fussballsports können einem zwar beim Lesen von Nutzen sein, sind aber keineswegs Bedingung. Nebst den zahlreichen Fan-Erlebnisberichten analysiert Selmer die Verhaltensmuster inner- und ausserhalb der Stadien, welche bei Frauen und Männern – das überrascht wohl niemanden – sehr unterschiedlich ausfallen. Diese Einführungen und Analysen verleihen dem Buch zuweilen den Charakter einer Sozialstudie.

Bereits im ersten Kapitel wird ersichtlich, welchen Stellenwert Zuschauerinnen in den Stadien Anfang des letzten Jahrhunderts hatten. Entweder wurden sie verunglimpft oder sie sollten, wie in England, «die aggressiven Elemente der Männerhorde in Schach halten». Aber entscheidend ist, dass Frauen schon immer einen Teil des Fussballpublikums bildeten. Wenn auch früher in geringerer Anzahl als heute. Gegenwärtig, weiss Selmer, liege der Anteil der Zuschauerinnen bei etwa einem Viertel. Eine Zahl, die ihre Recherche bei den Klubs der Ersten und Zweiten Bundesliga ergeben hat.

Doch erst in den siebziger Jahren entdeckten die Klubs, dass das weibliche Publikum auch über ein gewisses kommerzielles Potenzial verfügte. So lautete ein Slogan des Hamburger Sport-Vereins, welcher zu der Zeit die Nase bereits weit genug vorne hatte, um die Kauflust der weiblichen Fans zu stimulieren: «Auch die Oma muss sich für den HSV interessieren.» Für die jüngeren Frauen wartete der Verein mit Girlie-Trikots in den Trendfarben Himmelblau und Rosa auf. «Diese Farben gefallen den Frauen», wusste der damalige Vereinspräsident.
Nicole Selmer, 1970 in der Fussballeinöde Flensburg geboren, lebt heute in Hamburg, von wo sie eine langjährige Fanbeziehung zu Borussia Dortmund pflegt. Eigentlich habe sie nicht vorgehabt, ein Buch über weibliche Fussballfans zu schreiben, erklärt sie im Vorwort, eigentlich habe sie eines lesen wollen. «So ein Buch gab es aber nicht. Also habe ich es selbst geschrieben.» Die rund zwanzig Frauen, die Selmer zu Wort kommen lässt, wurden «mehr oder weniger zufällig ausgewählt». Entsprechend unterschiedlich sind auch die Biografien. Da wären zum Beispiel: Eva, 56, ihr Vater nahm sie schon als Sechsjährige mit zu den HSV-Spielen am Rothenbaum. Mia, 16, spielt selbst Fussball und unterstützt den FC St. Pauli. Ulla, 65, hingegen ist ein echter HSV-Fan und fährt auch öfter zum Training. Sie kenne «ihre Jungs in- und auswendig», erklärt die Hamburgerin. Sandra, 29, bezeichnet sich dafür als typische «WM-Guckerin».

Entweder Frau oder Fussballfan

Dass es sich bei allen befragten Frauen ausschliesslich um Anhängerinnen des deutschen Fussballs handelt, wirkt vielleicht für eine nichtdeutsche Leserinnenschaft prima vista ausschliessend. Die Geschichten, das merkt man schon sehr bald, lassen sich jedoch auch auf andere Nationalitäten übertragen.

Trotz den zum Teil grossen Altersunterschieden und der unterschiedlichen Art, wie die Liebe zum Fussball ausgelebt wird, scheint es, dass die Fussballsozialisation bei den meisten der befragten Frauen ziemlich ähnlich verlief. Entweder haben sie schon als Kind Fussball gespielt oder wurden vom Vater, manchmal auch mangels männlichen Nachwuchses, ins Stadion mitgenommen. Oder die Liebe zum Fussball entstand, wie bei Judith, durch puren Zufall: «Mein Bruder und mein Vater hatten Dauerkarten, und einmal hatte mein Bruder keine Zeit, da hat mein Vater mich mitgenommen. Danach musste mein Bruder immer zuhause bleiben.»

Für Frauen ist der Einstieg trotzdem weniger selbstverständlich als für Männer. «Jungs», schreibt Selmer, «spielen Fussball, gucken Fussball, wollen später einmal Fussballer werden. Das ist normal, es wird beinahe von ihnen erwartet. Eine ähnliche Selbstverständlichkeit gibt es für Mädchen, die Interesse an Fussball entwickeln, nicht. Mit den Klassenkameradinnen auf dem Schulhof kicken? Samstags die Idole im Stadion oder im Fernsehen bestaunen? Später einmal so berühmt und reich werden wie Birgit Prinz?» (Prinz ist Stürmerin der deutschen Nationalmannschaft.) Zumindest was die ersten beiden Punkte anbetrifft, ist einiges im Umbruch. Auch in unseren Breitengraden.

Wenn aber Frauen Fussball gucken, so verläuft das anders als bei Männern. «An den Ball zu kommen», schreibt Selmer, «ist für Frauen schon nicht immer ganz leicht, aber dranzubleiben, so zeigt sich, manchmal noch schwerer.» Im Kapitel «Rollenspiele – Männer und Frauen beim Fussball» durchleuchtet die Autorin geschlechtsspezifische Muster und Erwartungen. Zugleich ist es auch das Kapitel, das bei den Leserinnen die meis­ten Aha-Erlebnisse auslösen dürfte. «Diese Muster und Erwartungen», so Selmer, «bestimmen auch die Art und Weise, in der Frauen mit ihrer eigenen Rolle im Stadion, bei einer Fussballrunde vor dem Fernseher oder in einer ganz normalen Unterhaltung umgehen.» So werden Verhaltensmodelle aufgezeigt, die sich eigentlich nur Frauen aneignen können, aber mit Fussball im eigentlichen Sinn nichts zu tun haben. Zu diesen Modellen gehören: die unwissende Freundin, die geduldige Begleiterin, das Groupie-Mädchen. «Der Grundkonflikt, der sich hier abzeichnet», so Selmer, «ist der zwischen den verschiedenen Identitäten: Frau oder Fussballfan.»

Mentale Wendigkeit der Frau

Bei all diesen Modellen scheint Frau aber vor allem einem ausgesetzt: männlicher Skepsis. Und dass manche Klischees offenbar nicht aus der Welt zu schaffen sind, beweist das Beispiel von HSV-Fan Janina: «Da sind dann Idioten, die da mit einem das Gespräch suchen, so mit ‹Erklär mir mal das Abseits›. Da weisst du im Prinzip von vorneherein, mit denen musst du dich nicht weiter unterhalten.» Vielleicht darf sich Frau durch solche Rede aber auch angespornt fühlen, beim nächsten Tennismatch beim Sitznachbarn die Regel des Tie-Break abzufragen.
Für Frauen ist es selbstverständlich, dass neben ernsthaftem Fussballinteresse problemlos noch anderes Platz hat. «Wenn ein Spiel uninteressant ist», sagt Catarina vom Frauen-Fanclub «Always Ultras Cologne», «dann redet man zwischendurch auch mal mit dem Nachbarn über andere Sachen. Das können Männer nicht verstehen. Die sagen dann so was wie: ‹Eh, die Weiber wieder – seid ihr zum Fussballgucken oder Quatschen gekommen?› Wegen beidem natürlich. Frauen können eben ein Fussballspiel gucken und gleichzeitig noch quatschen.» Treffender könnte man die Vielschichtigkeit des weiblichen Fussballfans wohl kaum umschreiben. Wie aber manche Frau sicherlich schon erfahren durfte, ist es genau diese mentale Wendigkeit, welche aus männlicher Sicht die ernsthafte Expertin zum Groupie disqualifiziert. Dabei liegt das Problem bei der mangelnden Flexibilität der Männer.

«Watching the Boys Play» liest sich nicht in neunzig Minuten, aber man braucht dafür auch keine Saison. Und Nicole Selmer ist es mit ihrem gescheiten Frauen-Fussballbuch gelungen, die Lücke zu füllen, die sie bis anhin in den Gestellen der Buchläden vorfand.

Nicole Selmer: Watching the Boys Play. Agon-Verlag. Kassel 2004. 200 Seiten. Fr. 25.80