Die Zaubertafel

Le Monde diplomatique –

Schon im alten Rom war es üblich, alle akuten Schwierigkeiten an einer einzigen Ursache festzumachen. Cato beendete jede seiner Reden zu jedwedem Thema mit der Mahnung, Karthago müsse zerstört werden. 1984 engagierte das öffentlich-rechtliche Fernsehen den Schauspieler Yves Montand als Moderator für die Sendung „Vive la crise!“. Sie sollte den Französinnen und Franzosen weismachen, dass an sämtlichen Malaisen des Alltags nur der Wohlfahrtsstaat schuld sei. Als Allheilmittel wurde ein sozialer Kahlschlag empfohlen.

Zur nächsten politischen Allzweckwaffe wurde die Angst vor dem Terrorismus – eine Art Zaubertafel, von der alle anderen Probleme gelöscht sind. Unmittelbar nach den Anschlägen vom 11. September 2001 brachte die Beraterin des britischen Transportministers Stephen Byers folgenden Ratschlag in Umlauf: Dies sei „ein sehr guter Tag“, um Neuigkeiten zu verkünden, die möglichst kein Medienecho haben sollen. Man setzte also darauf, dass das Schreckensthema Terrorismus alle anderen schlechten Nachrichten überschatten würde.

Wie damals so auch heute: In Russland sind natürlich alle aktuellen Probleme die Folge westlicher Ranküne, während im Westen stets „Moskau an allem schuld“ ist, selbst am sinkenden Lebensstandard: Präsident Joe Biden führt die neuerdings stark anziehende Inflation unentwegt auf die „Putin-Steuer“ für Lebensmittel und Energie zurück.

Auch Emmanuel Macron behauptet, die aktuellen Nöte seiner ärmsten Landsleute seien die Folge eines „Wirtschaftskriegs“. Wenn das so wäre, hätten die Französinnen und Franzosen schon seit 40 Jahren keinen Frieden mehr erlebt, denn die Koppelung der Löhne an den Preisindex wurde 1982 von François Mitterrand und seinem Wirtschafts- und Finanzminister Jacques Delors eingeführt. Der Staat machte der Privatwirtschaft damals das größte Geschenk aller Zeiten, die arbeitende Bevölkerung dagegen, deren Kaufkraft auf Dauer geschwächt wurde, ging leer aus.

Zu der Zeit gehörten die Ukraine und Russland allerdings noch zu ein und demselben Land, und Wladimir Putin war noch nicht über seine Geburtsstadt Leningrad hinausgekommen. Die „Kriegswirtschaft“ wird die Verarmung der Ärmsten verlängern und beschleunigen, obwohl die Gewinne der 40 führenden französischen Aktiengesellschaften (CAC40) 2021 mit 160 Milliarden Euro ihren bisherigen historischen Rekord von 2006 pulverisiert haben. Mit anderen Worten: Alles hat sich gewandelt – nur nicht der weltweit herrschende Vorrang der Dividenden vor den Löhnen. Und die Entschlossenheit der Regierenden, dass das so bleibt. Oligarchen aller Länder …

Die Zaubertafel funktioniert auch für ökologische Themen: Wiederaufnahme der Kohleförderung, Förderung des Straßen- auf Kosten des Schienengüterverkehrs, Fracking, digitale Umweltverschmutzung, exzessive Werbung für teure Juwelierwaren in Zeitschriften und an Plakatwänden. In all diesen Bereichen geht das alte Leben offenbar weiter – und auch das „wegen Putin“?

Unterdessen spendiert der Staat den Ärmsten der Armen im Hitzesommer Ventilatoren und Wasserflaschen, und allen, die nicht mit dem Fahrrad zum Einkaufen fahren, einen geringfügigen Benzinrabatt. Die „Notfallmaßnahmen“ nehmen kein Ende, die notwendigen Maßnahmen aber müssen warten.

Serge Halimi