Lehren
und Lernen
unter Putin

Le Monde diplomatique –

Russland war immer bekannt für seine gute Ausbildung in naturwissenschaftlichen Fächern wie Mathematik oder Physik, während die Sozial- und Geisteswissenschaften eher stiefmütterlich behandelt wurden. Unter dem Druck der internationalen Rankings hätten sich die Studienpläne inzwischen jedoch weitgehend den europäischen Standards angeglichen, erklärt der Soziologe Alexander Bikbow: „Die jüngeren Lehrkräfte lesen die internationalen Publikationen und versuchen Methoden, Theorien und Forschungsfelder zu übernehmen, die in Europa und in den USA diskutiert werden.“

Ein paar Unterschiede gibt es aber: Seitdem 2013 das Gesetz „gegen Propaganda für Homosexualität unter Minderjährigen“ in Kraft trat, gehen auch die Unis auf Distanz zu LGBT-Themen, die an westlichen Unis mittlerweile fest etabliert sind.

Die Qualität der Lehre hängt von der Distanz zur Hauptstadt ab, aber mehr noch von den finanziellen Ressourcen und der Personalpolitik. Die renommiertesten, meist in Moskau ansässigen Unis locken die besten Kräfte mit maßgeschneiderten Verträgen an. Außerhalb Moskaus seien die Unibibliotheken oft viel schlechter ausgestattet, klagt Bibkow: „Sie haben viel weniger Mittel, um Zeitschriften und Onlinepublikationen zu abonnieren.“ Was aber nicht heißt, dass es nicht auch in anderen Regionen angesehene Einrichtungen gibt, wie zum Beispiel in Perm, Wladiwostok oder Jekaterinburg.

Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine treibt die Angst vor Denunziationen auch Professor:innen aus dem Land. Die Versuchung, ins Exil zu gehen, ist vor allem für jene groß, die international vernetzt sind. Nachdem sich der vom Kreml bestellte Leiter der Wirtschaftshochschule Moskau (HSE) Nikita Anissimow Anfang März mit 259 Rektoren in einem offenen Brief für die „Sonderoperation“ ausgesprochen hatte, verließen mindestens vier renommierte HSE-Dozent:innen das Land. Einigen anderen waren schon zuvor die Verträge nicht verlängert worden.

Bereits 2020 waren an der HSE die Kulturwissenschaften und die philosophische Fakultät radikal „umorganisiert“ worden. Der Lehrstuhl für Verfassungsrecht wurde gleich ganz abgeschafft, nachdem einige Beschäftigte Putins Verfassungsreform kritisiert hatten, die es dem Präsidenten erlaubt, bis 2036 an der Macht zu bleiben.

Auch die letzte Privatuni, die Moscow School of Social and Economic Sciences (Shaninka), und das Sozialwissenschaftliche Institut an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation (Ranepa) stehen unter Beobachtung. Das Büro des Moskauer Staatsanwalts erklärte im März 2022, dass die in den „Liberal Arts“ (Geschichte, Politik und Journalismus) vermittelten Inhalte „darauf abzielen, die traditionellen Werte der russischen Gesellschaft zu zerstören und die Geschichte zu verfälschen“.

Als Reaktion wurde der Studiengang an der Ranepa nicht nur umbenannt – er heißt jetzt „Multidisziplinäre Ausbildung“ –, auch die Inhalte wurden überarbeitet. Das Onlinemagazin Mediazona berichtete am 6. April 2022, die Ranepa-Professoren dürften sich nicht mehr öffentlich äußern, einigen von ihnen sei wegen früherer Verlautbarungen bereits mit Entlassung gedroht worden. Der Rektor der Shaninka, Sergei Zujew, der auch das Sozialwissenschaftliche Institut an der Ranepa leitet, sitzt seit November 2021 in Untersuchungshaft. Er wird des Betrugs beschuldigt, weist aber alle Anschuldigungen zurück.

Das Ministerium für Wissenschaften und Hochschulbildung will für alle Studierenden unabhängig von ihrer Fachrichtung einen obligatorischen Kurs in russischer Geschichte einführen. Auch die Lehrbücher sollen überprüft werden. Minister Waleri Falkow verkündete: „Der Geist dieser Lehrbücher muss mit unserer wichtigsten Aufgabe übereinstimmen, der Jugend den Stolz auf unsere Geschichte, die Errungenschaften einer mehr als tausendjährigen Kultur und das Bewusstsein für die Leistungen ihrer Vorfahren zu vermitteln.“

Falkow kündigte auch an, Russland werde das europäische Bachelor-Master-System aufgeben und ein eigenes Modell entwickeln. Russland hatte sich 2003 dem Bologna-Prozess angeschlossen. Nachdem die meisten westlichen Universitäten ihre Partnerschaften mit russischen Einrichtungen ausgesetzt haben, macht der Minister gute Miene zum bösen Spiel: „In der Vergangenheit war unsere Wissenschaft aus verschiedenen Gründen übermäßig auf den Westen ausgerichtet“, erklärte er der Zeitung Kommersant und forderte dazu auf, Forscher:innen aus Asien, Afrika und Südamerika zu gewinnen.

Estelle Levresse