Schweizer Film: Stammtisch und Sterben

Nr. 35 –

Liebe, Tod und ein Chor: In seinem neuen Film «Drii Winter» malt Michael Koch ungeschönt das Bild eines Bergdorfs. Beim grossen Lebensdrama stossen seine Laiendarsteller:innen an ihre Grenzen.

Filmstill aus dem Film «Drii Winter»: Mensch mit Kuh im Schnee
Marco (Simon Wisler) kanns gut mit den Kühen. Im Film «Drii Winter» wird die Tierwelt etwas gar plakativ als Spiegel menschlicher Befindlichkeiten eingesetzt. Still: Armin Dierolf, Hugofilm

Zum Ende von «Drii Winter» hängt das gemetzgete Tier mit aufgeschnittenem Bauch kopflos vor dem Stall, die Eingeweide dampfen farbig im Schnee und in der kalten Berg­luft. Ein paar Häuser weiter liegt der Bauer Marco in seiner getäferten Kammer im Bett und schickt sich an, zu sterben. Es ist nicht zu viel verraten, wenn man das hier preisgibt; Regisseur und Drehbuchautor Michael Koch lässt seine beiden Haupt­figuren Marco (Simo­n Wisler) und Anna (Michèle Brand) nicht lan­ge in ihrem Liebesglück schwelgen. Direkt nach der Hochzeit kommen Kotzen, Kopfweh – Hirntumor.

Zuchtstier und Problemkuh

«Drii Winter» ist ein wortkarger, unaufgeregter Film über ein Sterben, eine schwierige Persönlichkeitsveränderung, das alltägliche Leben in den Bergen. Und wie das von einem Lai:in­nen­­ensemble kaum anders zu erwarten ist, gelingt die Darstellung dieses Alltags besser als das Psychologische und das Sterben. Auch Kochs unverklärter Blick auf die Bergwelt überzeugt – wenn da nur nicht der Drang zum Symbolischen wäre. Wie in der Szene mit dem toten Tier lässt Koch Natur, Tiere und Menschen sich gegenseitig Spiegel und Sinnbild sein. Kurz nachdem der Zuchtstier die Problemkuh bestiegen hat, gibts Sex auf der grünen Alpweide hinter einem Stein. Später muss Marco die Kuh zum Abdecker fahren – und kriegt kurz darauf seine niederschmetternde Tumordiagnose.

Mit der unbelebten Natur ist es zum Glück etwas komplizierter. Diese besticht in «Drii Winter» vor allem durch ihre Eigenwilligkeit; sie funktioniert somit weniger als Sinnbild denn als unregierbare Kulisse, komplett unberührt von Glück und Not dieser Menschen. Es ist kein Zufall, dass «Drii Winter» mit der statischen Aufnahme eines Steins auf einer Wiese beginnt; da bewegen sich nur Nebelschwaden, ein Grashalm – und die Autos auf der Strasse im Hintergrund. Weitere solche «Stillleben» schneiden den Film in Kapitel. «Drii Winter» präsentiert sich im klassischen, aus der Malerei abgeleiteten 4:3-Format, mit sehr beschaulich und kontrolliert komponierten Szenen.

Zwischen den Fronten

In seinem ungeschönten Blick auf die Natur ist der Luzerner Michael Koch nahe dran an Fredi M. Murers Klassiker «Höhenfeuer», der mit seinen 37 Jahren erstaunlich gut gealtert ist. Murers Film verharrte damals in Nebelschwaden und steilen Hängen, die Berggipfel blieben in der Bildgestaltung von Pio Corradi konsequent abgeschnitten. «Höhenfeuer» zeigte die Nähe und Enge in den kleinen Berghütten und den Druck, den diese Enge in den Menschen wachsen lässt, bis zur unkontrollierten Entladung. Sogar wenn Murers Pro­ta­gonist:in­nen zum Feldstecher griffen, schauten sie damit nicht in die Weite, sondern spionierten bloss die andere Talseite aus: Heuen die Verwandten etwa an einem heiligen Pfingstmontag?

Solch ein kleingeistiger Überwachungsgeist prägt auch «Drii Winter»: Die Bergler:innen lassen Marco, diesen «Flachländer» aus Willisau, in jedem Moment spüren, dass er keiner von ihnen ist; und dann trinkt er auch noch Eistee statt Bier, sitzt abseits des Stammtischs. Seine Frau Anna, eine «Einheimische», wird immer wieder eingeklemmt zwischen diesen Fronten.

Koch vermeidet all die altbekannten und doch weiterhin gängigen Überzeichnungen des Berg- und Berg­ler:innen­films. Es gibt hier nichts Erhabenes und mythisch Überhöhtes wie in manchen Bergsteigerdramen, aber auch keine penetrante Betonung der hässlichen Seiten von Alpentourismus und SVP-Schweiz. Und auch heimattümelnd und kitschig wie «Der Bergdoktor» oder «SRF bi de Lüt – z’Alp» wird «Drii Winter» nie.

Wie im antiken Drama

Seinen realistischen Ansatz – zu dem auch eine Gymnastikstunde in der Dorfturnhalle gehört – bricht Koch aber durchaus. Ein gelungenes, klar künstliches Stilmittel ist etwa ein gemischter Gesangsverein in Uniform, der nicht jodelt, sondern die klassische Rolle des Chors im griechischen Drama übernimmt, wenn er das Geschehen in mehreren Auftritten kommentiert und lamentiert: «Oh weh». Und: «Komm führe mich in Friede, weil ich der Welt bin müde». Eine gesungene Gefühlsverstärkung, wortgewaltige Gegenwelt zur Sprachlosigkeit vor allem des männlichen Teils der Dorfbevölkerung.

Die Laien­darsteller:in­nen wiederum können das emotionale Gewicht, die existenzielle Dimension des Dramas nicht immer tragen. Und doch scheint gerade das Ungeschliffene, Holprige dieser Erzählung eines elenden Sterbens einen faszinierenden Sog zu entwickeln: Das Bundesamt für Kultur schickt «Drii Winter» als offiziellen Anwärter der Schweiz ins Oscar-Rennen.

Einige Szenen bleiben tatsächlich hängen und hallen nach: Annas Tanz etwa, der sich einzig in Marcos Gesicht spiegelt. Oder die staubigen Heuballen, die aus dem dicht verhangenen Himmel auf den Schneeboden plumpsen: Futterlieferung im harten Winter. Was bleibt, sind auch die letzten Einstellungen: der bodenlose Blick der zurückgebliebenen Anna, schmal und allein auf einem grasigen Grat, eingerahmt von einer stets unerschütterlichen Umgebung.

«Drii Winter». Regie und Drehbuch: Michael Koch. Schweiz 2022. Jetzt im Kino.