Alain Tanner (1929–2022): Ein Kino der Nähe in der Mitte der Welt

Nr. 37 –

Der Enge entfliehen und doch nicht wegkommen: Zum Tod des grossen Schweizer Filmemachers Alain Tanner.

Philippe Léotard und Olimpia Carlisi im Film «Le Milieu du monde»
Regisseur Alain Tanner war eine Inspiration für jüngere Filmschaffende – aber manchmal auch ein lastender Übervater: Philippe Léotard und Olimpia Carlisi in «Le Milieu du monde». Still: Sammlung Cinémathèque Suisse

Meine Kinoleidenschaft beginnt mit einem Standbild aus Alain Tanners «Le Milieu du monde» von 1974, einer Liebesgeschichte um einen Politiker und eine italienische Immigrantin im Jura. Das Bild zeigt Olimpia Carlisi, dunkelhaarig und gross ins Leere blickend, im Ornat einer Serviertochter, wie es damals noch hiess, hinter einem typischen Schweizer Beizentresen. Abgedruckt war es in der Zeitschrift «Cinema»; in derselben Ausgabe schrieb Wolfram Knorr über Steven Spielbergs «Sugarland Express». Die Filme selbst waren nicht verfügbar, VHS kam gerade erst auf den Markt. Das Bild von Carlisi erreichte mich im Musikzimmer eines kunstsinnigen Haushalts, wo das Magazin im Regal stand, mich vom Üben ablenkte und auf die Bahn zum Kino brachte. «Milieu du monde» heisst die Wasserscheide in Pompaples im Waadtländer Jura, und ich nahm den Filmtitel viel ernster, als er gemeint war. Mitten unter den grossen Namen des Kinos ein Film aus der Schweiz, ein Kino der Nähe in der Mitte der Welt.

Für einen kurzen, aber bedeutsamen Moment war eine solche Empfindung mehr als das Missverständnis eines Provinzlers. In den 1970er Jahren war der Schweizer Film, und war vor allem der Genfer Tanner, so cool, dass Szenebars in Berlin und Berkeley «Jonas» hiessen, nach seinem Film «Jonas qui aura 25 ans en l’an 2000» (1974). Tanner hatte damit das Unbehagen am wachsenden Wohlstand der Nachkriegszeit, an dem also, was heute «Anthropozän» heisst, für eine ganze Generation in eine filmische Form gebracht.

Kurs aufs Landesinnere

Von Haus aus Ökonom, war Tanner in den Fünfzigern der Enge seiner calvinistischen Heimatstadt ans Mittelmeer entflohen. Er arbeitete am Hafen von Genua und bereiste danach mit der Handelsmarine Afrika. Zurück in der Schweiz, begann er Kurzfilme zu drehen und fürs Fernsehen zu arbeiten. Zusammen mit seinen Weggefährten des Genfer Groupe 5 – Jean-Louis Roy, Claude Goretta, Michel Soutter, Jean-Jacques Lagrange und später Yves Yersin – nutzte er das Westschweizer Fernsehen als Experimentalsystem für die Entwicklung eines neuen Autorenkinos. Erst mit vierzig Jahren realisierte er seinen ersten Langspielfilm: «Charles mort ou vif», mit dem er 1969 den Hauptpreis in Locarno gewann. Die Hauptrolle spielte François Simon, der Sohn des Schauspielers Michel Simon und Gründer des Théâtre de Carouge in Genf. Widerständig und zugleich engelhaft spielte Simon einen Industriellen, der Fabrik und Familie verlässt und zu einem Hippiepärchen an den Stadtrand von Genf zieht. Sein Ausbruchsversuch endet, wie der vieler Protagonisten des Schweizer Films der Siebziger, in der Psychiatrie. «Les Suisses vont à la gare, mais ils ne partent jamais», sagte einmal, aus der Ferne, Blaise Cendrars, der Weltreisende aus La Chaux-de-Fonds: Die Schweizer gehen zum Bahnhof und kommen doch nie weg. Für die Dagebliebenen aber spielte die Dialektik von Nähe und Ferne über einem ­Abgrund.

Alain Tanner
Alain Tanner

Tanner setzte seinen persönlichen «Diskurs in der Enge» unter anderem in «Le Retour d’Afrique» (1973) fort, einem zu wenig bekannten Kammerspiel, in dem ein Genfer Pärchen in Algerien ein sinnvolleres Leben sucht. Allerdings reisen sie gar nie ab und verstecken sich wochenlang vor ihren Freund:in­nen in ihrer Wohnung: eine subtile Meditation über die Scham des Scheiterns, die im politischen Engagement immer angelegt ist. In «Messidor» (1980) gehen dann zwei junge Frauen per Autostopp auf eine Tour durch die Schweiz – ein Roadmovie mit feministischen Zügen und Kurs aufs Landesinnere, wobei die Bewegung in einen zusehends ausweglosen Strudel mündet.

Auf dem Höhepunkt seines Ruhms drehte Tanner «Light Years Away» (1981), auf Englisch mit Trevor Howard, und «Dans la ville blanche» (1983) mit Bruno Ganz in Lissabon. Seine Filme mit der Schauspielerin Myriam Mézières wurden dann zu Hassobjekten einer feministischen Filmkritik, etwa «Une flamme dans mon cœur» (1987), der von der körperlichen Trauer einer Frau um die dreissig über eine verlorene Liebe handelt. Irene Bignardi, die spätere Direktorin des Filmfestivals in Locarno, verfasste anlässlich der Premiere in Venedig einen besonders memorablen Verriss. Doch wie für seine vier Filme mit dem Autor John Berger und später die mit dem Pruntruter Schriftsteller und Drehbuchautor Bernard Comment gilt genauso für die Arbeiten mit Mézières: Entstanden im Dialog, sind diese Filme auch Werke der Schauspielerin und sollten unter diesem Gesichtspunkt neu gesehen werden. 1995 kehrte Tanner zudem zu seinen Anfängen als Dokumentarist und zum Hafen von Genua zurück, mit «Les Hommes du port», einer Hommage an die Kunstfertigkeit der Hafenarbeiter am Ende der Ära der Stückgutfracht und am Übergang zur Containerschifffahrt.

Pessimist, aber ohne Groll

Tanner war die prominenteste Figur des Groupe 5 und eine Inspiration für jüngere Filmschaffende wie Clemens Klopfenstein, bald aber auch ein manchmal lastender Übervater des Westschweizer Films. Er äusserte sich vermehrt pessimistisch übers Kino und verfasste eine buchlange Kulturkritik der Medien, eine Art düsteres schriftliches Sequel zu «La Salamandre» von 1971, seinem nach «Jonas» wohl bekanntesten Film, in dem die junge Bulle Ogier als Rebellin und mutmassliche Gewalttäterin zwei Fernsehjournalisten an ihren eigenen Vorurteilen verzweifeln lässt. Als ich einmal zu Beginn der 2000er Jahre in einem öffentlichen Beitrag zu einem Filmseminar in Lausanne eine gerontokratische Verknöcherung des Westschweizer Films diagnostizierte, bekam Tanner Wind davon und nahm die Kritik persönlich.

Einige Zeit darauf, als Gastprofessor in Mailand, wurde ich dort zu einem Dinner zu ­Ehren Tanners eingeladen, anlässlich einer Retrospektive. Bei der Vorstellung sagte Tanner kühl: «Ah, c’est vous!» Wir setzten uns hin und begannen zu reden. Bald realisierte er, dass aus­ser dem Kurator nur ein Gast alle seine Filme kannte und sie sogar liebte, nämlich der namenlose Deutschschweizer, der ihn kurz zuvor in Lausanne vor der versammelten Westschweizer Filmwelt beleidigt hatte. Am Ende des Abends drückte mir Tanner die Hand, sah mir fest in die Augen und sagte: «Sans rancune!» Es bleibt meine liebste Versöhnungsgeschichte. Tanner lebt in seinen Filmen weiter. Sie geben immer noch den Blick frei auf die Mitte der Welt.

Die Filme von Alain Tanner sind grösstenteils auf www.playsuisse.ch verfügbar.

Vinzenz Hediger lehrt Filmwissenschaft an der Universität Frankfurt.