Durch den Monat mit Hannes Rudolph (Teil 5): Warum gibt es so viele Schönheits­operationen?

Nr. 39 –

Wie der neoliberale Kapitalismus die Selbstwahrnehmung beeinflusst. Warum trans Personen heute früher Hilfe suchen als noch vor zehn Jahren. Und worüber sich Hannes Rudolph am Jubiläum der HAZ – Queer Zürich besonders gefreut hat.

Hannes Rudolph auf dem Fahrrad
«Der neoliberale Kapitalismus lebt davon, dass Menschen sich unzulänglich fühlen – durchaus auch in der Art, wie sie ihr Geschlecht verkörpern»: Hannes Rudolph.

WOZ: Hannes Rudolph, Sie haben bis vor wenigen Monaten die Fachstelle für trans Personen im Checkpoint Zürich geleitet. Was hat sich in den letzten Jahren für trans Personen geändert?

Hannes Rudolph: Vor zehn Jahren, als ich mit der Beratung anfing, haben sich viele Leute erst dann Hilfe gesucht, wenn es quasi nicht mehr anders ging. Heute suchen sie schon viel früher Hilfe, wenn es ihnen noch nicht annähernd so schlecht geht.

Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Sie bildet natürlich die gesellschaftliche Verbesserung im Umgang mit trans Personen ab. Es haben sich in den vergangenen Jahren viele Leute als trans geoutet, auch solche, die von der Gesellschaft als «respektable Personen» angesehen werden, im künstlerischen Bereich zum Beispiel oder in der Politik. Das alles trägt zur Entstigmatisierung bei. Bis vor kurzem wurde trans ja noch per definitionem als psychisch krank gelabelt, als «Störung der Geschlechtsidentität». Inzwischen hat die WHO das geändert. Doch der Verdacht, dass trans Personen psychisch gestört seien und ihrem Urteil nicht getraut werden könne, begegnet ihnen noch immer, gerade auch, wenn es um die Frage einer allfälligen Geschlechtsangleichung geht. In unserem Gesundheitssystem ist es zudem nicht einfach, zu einer solchen Behandlung zu kommen.

Im Gegensatz etwa zu Schönheitsoperationen. Wie erklären Sie sich die immense Zunahme solcher Eingriffe?

Die Normen, was ein Mensch alles leisten und performen muss, werden immer enger. Der neoliberale Kapitalismus lebt ja davon, dass Menschen sich unzulänglich fühlen – durchaus auch in der Art, wie sie ihr Geschlecht verkörpern. Es gibt auch eine interessante Erkenntnis aus der feministischen Forschung.

Welche Erkenntnis?

Je mehr Freiheiten und Rechte Frauen erkämpften, umso krasser wurden die Anforderungen in Bezug auf Schönheitsideale, Fitness – und daran, alles Mögliche unter einen Hut bringen zu müssen. Besonders die Anforderungen an Mütter sind immens gestiegen. Heute ist das ja zum Teil echt ein Riesenwettbewerb: Wer schnitzt die schöneren Biokarotten für die Znünibox? Wer also steckt wie viel Arbeit und Zuwendung in den Nachwuchs? Und ich glaube, dass auch die Ängste, nicht Frau oder Mann genug zu sein, zum Teil richtig stark auf Kinder projiziert werden.

Woran lässt sich das festmachen?

Daran zum Beispiel, dass die kindlichen Geschlechterrollen seit den achtziger Jahren stark voneinander abgegrenzt wurden. Um das zu sehen, reicht ein Blick in die Spielwaren- und Kinderkleiderabteilungen. Vor vierzig Jahren teilten sich noch viel mehr Kinder, egal welchen Geschlechts, das Spielzeug, trugen die gleichen Kleider und fuhren die gleichen Fahrräder. Was sicher auch daran lag, dass sich viele Eltern nicht für jedes Kind neue Sachen leisten konnten.

Wenn Sie auf das 50-Jahr-Jubiläum der HAZ – Queer Zürich Anfang September zurückblicken: Was ist Ihr Fazit?

Schon der Eröffnungsabend im grossen Saal des Kinos Kosmos war grossartig. Da zeigten wir Filme aus der Gründungszeit der HAZ, was für Homosexuelle Arbeitsgruppen Zürich steht: Ausschnitte aus Rosa von Praunheims «Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt» sowie cineastische Kleinode aus dem Archiv wie etwa einen SRF-Beitrag über die HAZ aus dem Jahr 1973, in dem auch Leute auf den Strassen von Zürich gefragt wurden, was sie von Homosexualität halten. Sehr eindrücklich waren auch die Reden von HAZ-Mitgründern und Aktivist:innen der achtziger Jahre. Es war bewegend zu sehen, was sich in diesen fünfzig Jahren so alles getan hat. Und wie bunt und vielfältig die ganze Community inzwischen ist.

Wie liefen die Workshops?

So vielfältig die Themen auch waren, sie haben ihr Publikum gefunden. Ob «Queere Second@s», «Queer und jüdisch», «Gläubig und queer», «Queer und behindert» oder die Living Library «Aromantisches und Asexuelles Spektrum»: Fast alle Workshops waren sehr gut besucht bis ausgebucht. Das ist genau das, was wir uns erhofft hatten: dass wir Leute mit Themen erreichen, die noch nicht so beackert werden.

Und wo sehen Sie als HAZ-Geschäftsführer die grössten Herausforderungen der nächsten Jahre?

In erster Linie müssen wir dem diskursiven Rechtsrutsch wirkungsvoll begegnen. In den fünf Wochen, die wir hier reden, hat es eine dramatische Häufung transfeindlicher Medienbeiträge gegeben. Es ist verheerend, dass mit rechter Rhetorik und Begriffen wie «Transgender-Lobby» und «Gender-Ideologie» Ängste geschürt werden gegenüber Menschen, die besonders vulnerabel sind und gerade keine Lobby im Sinne finanzieller Ressourcen haben. Die Menschenrechte von trans Personen sind nicht verhandelbar.

Hannes Rudolph (44) ist Psychologe, Theaterregisseur und Geschäftsführer des LGBTQ-Vereins HAZ – Queer Zürich, der heuer seinen 50. Geburtstag feierte. Bis Mai leitete er die Fachstelle für trans Menschen im Checkpoint Zürich. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.