Überschwemmungen in Pakistan: Mit der Flut steigt auch die häusliche Gewalt

Nr. 39 –

Weltweit sterben mehr Frauen als Männer bei Klimakatastrophen. So auch in Pakistan. Woran liegt das?

Das rasante Schmelzen der Gletscher hat zusammen mit ungewöhnlich heftigen Monsunregen in den vergangenen Wochen eine Riesenflut produziert, die das Land verwüstet hat. Ein Drittel Pakistans steht unter Wasser, über 1500 Menschen starben bei den Überschwemmungen. 33 Millionen Menschen sind insgesamt betroffen, 10 Millionen Personen haben ihr Zuhause verloren und leben in Zelten an Strassenrändern oder in temporären Lagern und Unterkünften. Hunderttausenden fehlt es an Nahrungsmitteln, frischem Trinkwasser, Toiletten und Medizin.

Frauen ertrinken, weil sie als Kinder weder schwimmen noch klettern lernen durften.

«Frauen sind von Klimakatastrophen stärker betroffen», sagt Sara Hayat, eine pakistanische Anwältin und Spezialistin für Klimawandel, die als Beraterin für die Regierung und internationale Organisationen tätig ist. Der Grund dafür liege hauptsächlich in kulturellen und sozialen Normen: «Frauen in Pakistan sterben eher bei Überschwemmungen, weil sie als Kinder weder schwimmen noch klettern lernen durften», so Hayat. Zudem würden sich Frauen aufgrund kultureller Zwänge teilweise weigern, aus Flutwellen gerettet zu werden, weil sie in nasser Kleidung nicht von Männern ausserhalb ihrer Familie gesehen, geschweige denn berührt werden sollen. «Viele Frauen verlassen zudem ihre Häuser nicht ohne männliche Begleitung oder kümmern sich zuerst um die Kinder und älteren Verwandten», sagt Hayat. Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen und Kinder bei einer Klimakatastrophe sterben, global gesehen bis zu vierzehn Mal so hoch wie bei Männern, wie Studien aufzeigen.

Schwangere in Not

Statistiken zur aktuellen Katastrophe in Pakistan existieren noch nicht. Trotzdem steht fest: Auch unter dem Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung leiden viele Frauen stark. Unter den Millionen von Menschen, die dringend humanitäre Hilfe benötigen, befinden sich 128 000 schwangere Frauen. 42 000 von ihnen werden laut Uno-Bevölkerungsfonds in den nächsten zwei bis drei Monaten gebären – die meisten ohne Zugang zu medizinischer Hilfe und Versorgung, die schon vor der Flut an vielen Orten dürftig war. «In Zelten und temporären Lagern haben die Frauen zudem keine Privatsphäre, oder sie wurden aufgrund der Flut von älteren weiblichen Verwandten getrennt, die traditionell bei Geburten unterstützen» sagt Hayat. Auch Krankheiten sind ein Problem: Aufgrund des stagnierenden Hochwassers sind in gewissen Gebieten bereits Denguefieber, Malaria und Typhus ausgebrochen, auch das Risiko einer Choleraepidemie ist real.

Die starken Überschwemmungen haben nicht nur Häuser, Brücken und Strassen, sondern auch Vieh und Felder weggespült: Drei Millionen Nutztiere sind in den Fluten verendet, fast die Hälfte der gesamten landwirtschaftlichen Fläche ist zerstört, zwei Drittel der Ernte wurden vernichtet. Die pakistanischen Behörden schätzen, dass es in gewissen Gebieten bis zu sechs Monate dauern könnte, bis die Überschwemmungen zurückgehen. Damit sind auch zukünftige Ernten und die Lebensgrundlage eines Grossteils der Bevölkerung gefährdet. Denn gemäss dem pakistanischen Amt für Statistik sind knapp vierzig Prozent der arbeitenden Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, darunter überproportional viele Frauen.

Flucht vor der Klimakatastrophe

Tausende Bäuer:innen werden nun auf der Suche nach Arbeit und Einkommen zumindest temporär in die Städte abwandern. Dort erwarte die meisten jedoch ein Leben in tiefer Armut, sagt Klimaanwältin Hayat. «Viele Binnenflüchtlinge leben in Slums, in beengten Unterkünften ohne Zugang zu Wasser oder sanitären Einrichtungen, Krankheiten sind weit verbreitet.» Die Migration in die Städte kann zudem zu Problemen zwischen den Migrant:innen und den Aufnahmegesellschaften führen, da der Wettbewerb um Arbeitsplätze oder um den Zugang zu Gesundheits- und Bildungseinrichtungen zunimmt. «Dadurch verschärfen sich auch innerfamiliäre Spannungen, und das Risiko von häuslicher Gewalt steigt stark an», so Hayat. Viele Frauen sähen sich zudem nicht in der Lage, andere Berufe zu ergreifen, da sie ihr ganzes Leben lang in der Landwirtschaft und der Viehzucht tätig waren. «In den Städten haben sie wenig Verdienstmöglichkeiten. Sie arbeiten als Nannys oder Haushaltshilfen, oft unter prekären Bedingungen.»

Pakistan hat bereits heute die höchste Urbanisierungsrate in Südasien: Bis ins Jahr 2030 wird der Anteil der Stadt- an der Gesamtbevölkerung auf fünfzig Prozent ansteigen, schätzt der Uno-Bevölkerungsfonds. Die hohe Bevölkerungsdichte und die unterschiedliche Topografie – von Gletschern im Norden bis zur Wüste im Süden – machen das Land für die Auswirkungen des Klimawandels besonders anfällig. So sind in den letzten zehn Jahren bereits Millionen von Pakistaner:innen wegen Überschwemmungen oder Dürren temporär oder permanent migriert. Diese klimabedingte Migration ist aber nicht nur in Pakistan, sondern auch im ganzen südasiatischen Raum zu beobachten: Die Organisation Action Aid schätzt, dass es bis zum Jahr 2050 in den fünf Ländern Pakistan, Indien, Bangladesch, Nepal und Sri Lanka 62 Millionen Klimaflüchtende geben wird.