Macrons Antisozialpolitik

Le Monde diplomatique –

Steuergeschenke und Boni statt höhere Löhne

Frankreichs neues Kaufkraftgesetz, das mit der Mehrheit der Präsidentenpartei (neuerdings „Renaissance“ genannt), der bürgerlichen Rechten und dem Rassemblement National am 3. August verabschiedet wurde, bedeutet vor allem eines: Beihilfen ja, aber bloß keine Lohnerhöhungen.

Dabei wirkt das Ganze auf den ersten Blick wie eine ideologische Kehrtwende – ausgerechnet der Politiker, die stets auf Sozialhilfeempfänger schimpfen. Während die Inflation steigt (um etwa 5 Prozent in diesem Jahr, für Grundnahrungsmittel aber deutlich mehr) und die Kaufkraft sinkt (um 3 Prozent1), konnte der Präsident – die Gelbwesten im Hinterkopf – nicht untätig bleiben.

Macron hätte zu Beginn seiner zweiten Amtszeit ein starkes Zeichen setzen können: etwa durch Rückkehr zu dem an den Lebenshaltungskosten ausgerichteten Indexlohn, der immerhin 30 Jahre lang (1952–1982) gegolten hatte. Dieses System war gewiss nicht perfekt, und die Anpassung der Löhne und Gehälter ließ oft lange auf sich warten, doch es schützte immerhin vor einem größeren Kaufkraftverlust.

Als die gleitende Lohnskala 1982, in der Ära Mitterand, von einer mehrheitlich sozialistischen Regierung abgeschafft wurde, war dies der Auftakt zu einer Umverteilung des produzierten Reichtums zugunsten der Profite und auf Kosten der Löhne. Deren Anteil an der Wertschöpfung ist seitdem von 74,1 auf 65,4 Prozent gefallen.2

Nun hat Macron ein Maßnahmenpaket vorgelegt, das eine allgemeine Lohn- und Gehaltserhöhung ausschließt – ausgenommen die Beamtenbesoldung, die um 3,5 Prozent zulegt. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Gehälter der Staatsbediensteten seit 2010 weitgehend eingefroren waren. Deren Einkommen sind in den letzten zwölf Jahren inflationsbereinigt um 17,6 Prozent geschrumpft.3

Damit verfügt eine Beamtin, die 2010 noch 1000 Euro verdient hat, heute nur noch über ein Kaufkraft-Äquivalent von 820,40 Euro. Kein Wunder also, dass es keine Krankenpfleger oder Lehrerinnen mehr gibt, die inzwischen zu den am schlechtesten bezahlten in EU-Europa gehören.

Angeblich kann der Staat nicht mehr tun. Besorgt wird immer wieder auf die „historische“ Summe von 7,5 Milliarden Euro verwiesen, die das Maßnahmenpaket kosten soll. Doch niemand empört sich über die 8 Milliarden Euro, die der Staat durch die Senkung der Unternehmenssteuer verlieren wird, die Premierministerin Elisabeth Borne Anfang Juli in der Nationalversammlung angekündigt hat.

Denn was nützt es, wenn der Liter Benzin 30 Cent billiger wird, zugleich aber weder die an die Tankstellenpreise gekoppelten Umsatzsteuern noch die Superprofite der Ölgesellschaften angetastet werden? Auch die Erhöhung der Strompreise wird bis Jahresende zwar auf 4 Prozent gedeckelt, doch gleichzeitig wird die Electricité de France (EDF) gezwungen, 40 Prozent ihres billigen Stroms an ihre Konkurrenten zu liefern, statt damit kostengünstig die Haushalte zu beliefern.

Auch die Grundrenten und die hauptsächlich von den Kommunen ausgezahlte Sozialhilfe werden um 4 Prozent und das Wohngeld um 3,5 Prozent angehoben. Aber das kompensiert bei weitem nicht die „10 Milliarden Euro, die seit Macrons Amtsantritt auf Kosten der Ärmsten eingespart wurden“, heißt es im Jahresbericht der Fondation Abbé Pierre über die Wohnungsnot.4

Im Übrigen wiederholt Macron ein Manöver, mit dem er schon 2018 auf die Gelbwestenproteste reagiert hatte: Die Arbeitgeber sollen eine Prämie bewilligen, die den hübschen Namen „partage de la valeur“ (Wertteilhabe) trägt. Die groß angekündigte Verdreifachung dieser steuer- und abgabenfreien Prämie – auf 3000 Euro – kommt freilich einer Irreführung gleich: Die 15 Millionen (von insgesamt 27 Millionen) Beschäftigten, die 2019 in den Genuss der Prämie kamen, erhielten im Schnitt nur 542 Euro, also nur 54 Prozent des maximalen Betrags. Und auch die geplante Steuerbefreiung von Überstunden und Mehrarbeit als Ersatz für Arbeitszeitverkürzungen läuft auf eine glatte Täuschung hinaus.

Angesichts der Tatsache, dass vielen Haushalte gegen Monatsende das Geld ausgeht, könnte man dennoch sagen: besser als nichts. Doch in Wahrheit tarnen diese ganzen Maßnahmen nur weitere soziale Rückschritte. Der offensichtlichste ist der Raubbau an Freizeit, indem man den Beschäftigten ihre Erholungstage mit wenig Geld abkauft. Was im Fall von Geringverdienern mit besonders belastenden Jobs besonders fatal ist.

Raubbau an der Freizeit

Damit beseitigt Macron im Handumdrehen auch noch die 35-Stunden-Woche, mit der sich die Unternehmerseite nie abgefunden hatte. Und posiert dennoch als ein „Präsident, der sich um die kleinen Leute kümmert“.

Noch perfider ist das System der Erfolgsprämien. Offiziell dürfen diese Gratifikationen nicht Gehaltserhöhungen ersetzen. Doch genau das passiert. Eine Prämie, die nur vom guten Willen (oder den Finanzen) des Arbeitgebers abhängt, auf die es also keinen Rechtsanspruch gibt, darf keine Dauerlösung sein. Zumal diese Zahlungen nicht auf Kranken- und Mutterschaftsgeld, auf Renten und Arbeitslosenunterstützung angerechnet werden. Für die Sozialversicherungskassen und den Fiskus bedeuten sie einen erheblichen Einnahmeausfall, der auch im Hinblick auf die Staatsschulden beunruhigend ist.

Dasselbe gilt für die von Steuern – und Sozialabgaben – befreiten Gratifikationen, die künftig auch kleine und mittlere Unternehmen auszahlen sollen. Diese Großzügigkeit auf Kosten der öffentlichen Hand ist ein weiteres Geschenk an die Kapitalseite, der einige Monate zuvor eine reduzierte Vergütung von Überstunden zugestanden wurde. Dieser Zuschlag sinkt von 50 Prozent für die ersten acht Überstunden auf 25 Prozent, per Betriebsvereinbarungen womöglich sogar auf 10 Prozent.

Für die große Mehrheit der Bevölkerung wird sich das Ganze als Mogelpackung erweisen. Denn die fortschreitende Befreiung von Abgaben wird die Defizite bei den Sozialversicherungen noch vergrößern. Diese Löcher dürften dann durch Leistungskürzungen ausgeglichen werden – mit unabsehbaren Folgen für die Armen. Kurzum, was der Staat heute zugestanden hat, wird er morgen wieder einkassieren.

Dies ist freilich eine Entwicklung, die sich schon länger abzeichnet. Die ersten „Entlastungen“ zugunsten der Arbeitgeber erfolgten Anfang der 1990er Jahre unter dem konservativen Regierungschef Édouard Balladur. Diesen Trend hat seitdem keine Regierung – ob linke oder rechte – wieder umgekehrt. Das geht so weit, dass Arbeitgeber heute keine Sozialversicherungsbeiträge mehr auf den Mindestlohn zahlen müssen (von der Arbeitsunfallversicherung abgesehen).

Das legt eigentlich den Schluss nahe, dass eine Anhebung des Mindestlohns die Unternehmen nicht in den Ruin treiben würde. Das sehen die Mainstream-Ökonomen allerdings anders. In seinem letzten Bericht von 2021 kam der regierungsamtliche „Expertenausschuss“ für den Mindestlohn, dem weder ein Gewerkschaftsmitglied noch ein irgendwie kritischer Ökonom angehört, zu dem Schluss, dass eine Anhebung die französische Wirtschaft aufs Höchste gefährden würde. Weiter schlug der Rat vor, „die automatische Indexbindung“ auch noch für den Mindestlohn abzuschaffen.5 Stattdessen setzt der Rat – als Mittel gegen den rasanten Anstieg der Erwerbsarmut – auf eine „Beschäftigungsprämie“. Die soll den Anreiz schaffen, selbst dann „eine Arbeit aufzunehmen oder zu behalten“, wenn es sich um einen extrem unsicheren und schlecht bezahlten Job handelt.

Niedriglöhne zum Schaden der Wirtschaft

Bislang ist der Mindestlohn zum Glück an einen Preisindex und an die Höhe des Durchschnittslohns gekoppelt. Dennoch fällt er im Vergleich zu vielen EU-Ländern mit vergleichbarer Wirtschaftskraft eher mager aus. Im April 2022 lag er mit 1603 Euro brutto unter dem Niveau von Luxemburg (2257 Euro), Irland (1775 Euro), den Niederlanden (1725 Euro), Belgien (1658 Euro) und auch Deutschland (1621 Euro), das überhaupt erst 2015 einen Mindestlohn eingeführt hat.6 Auch nach der leichten Anhebung vom 1. August liegt er mit 1678 Euro noch immer unter dem Großbritanniens, das nicht gerade für eine progressive Sozialpolitik bekannt ist.

In Frankreich fühlt sich das Arbeitgeberlager heute gegenüber den geschwächten Gewerkschaften so stark, dass es für bestimmte Bereiche besondere Lohngruppen vorsieht, die sie als „konventionellen Mindestlohn“ etikettieren und die unterhalb des offiziellen Mindestlohns liegen. 2020 gab es diese Regelung für 16 Prozent der Branchen, 2022 aber bereits für 70 Prozent.

Die Arbeitgeber arbeiten damit auf eine Aushöhlung der Lohnhierarchie hin. Und zwar sowohl von unten – mittels der zu niedrigen konventionellen Mindestlöhne – und von oben, insofern die Entwicklung des offiziellen Mindestlohns nicht mehr auf sämtliche Lohngruppen durchschlagen kann.

Derzeit verdient etwa die Hälfte der Beschäftigten im Privatsektor und in öffentlichen Unternehmen weniger als 2005 Euro netto im Monat; 80 Prozent erhalten weniger als 3000 Euro. Sie alle sind durch eine stufenweise Senkung der Arbeitgeberbeiträge betroffen, die degressiv für alle Lohngruppen bis zur Höhe des 2,4-fachen Mindestlohns eingeführt wurde.7

Die Niedriglohnfalle hat nicht nur offensichtliche soziale Auswirkungen, sondern sie schadet auch der Wirtschaft. Davon zeugen zum Beispiel der Niedergang der französischen Industrie vor allem in den Hightech-Branchen, aber auch die Personalprobleme in so lebenswichtigen Bereichen wie der Betreuung von älteren Menschen oder Kindern.

Gegen die Personalknappheit hat die Regierung zwei Mittel gefunden: Erstens wurde die Arbeitslosenversicherung geändert, um die Arbeitssuchenden zu zwingen, jede Stelle anzunehmen. Zweitens wurden für bestimmte Berufe die Anforderungen an die Qualifikation gesenkt. Zum Beispiel dürfen seit dem 4. August 2022 ungelernte Kräfte als Erzieher und Erzieherinnen in Kindertagesstätten eingestellt werden.

Dieses düstere Panorama schildert nur die Lage der abhängig Beschäftigten, aber dazu gibt es auch die 2 Millionen Selbstständigen und Kleinstunternehmer, die im Durchschnitt weniger als 900 Euro im Monat verdienen.

Doch welche Logik steckt hinter diesem zersplitterten Arbeitsmarkt? Die „Kosten der Arbeit“ sollen gesenkt werden, um die Erträge des Kapitals zu sichern oder zu mehren. Je weniger für Arbeit gezahlt wird, desto mehr verdienen die Aktionäre. Und zwar mittels Deregulierung, Steuer- und Abgabenbefreiung, Kürzung der Sozialausgaben – und ein paar Bonussen, um das Ganze einigermaßen erträglich zu machen.8

Immer mehr Menschen – jedenfalls diejenigen, die es sich leisten können – werden auf private Anbieter ausweichen, um sich eine bessere Krankenversorgung oder eine Zusatzrente zu sichern. Die Mittelschicht wird sich irgendwie durchschlagen. Die Armen müssen sich mit Billigprodukten, Rabatten von Supermärkten oder Almosen begnügen. Das französische Modell, das auf kollektiver Solidarität und der sozialen Verantwortung der Unternehmen beruht, wird auf diese Weise stetig ausgehöhlt.

Die Folgen der Misere sind schon heute zu besichtigen. Etwa an den staatlichen Krankenhäusern unseres Landes, die sich in einem fortgeschrittenen Zustand des Verfalls befinden. Eine Erneuerung des solidarischen Modells ist für das Schicksal künftiger Generationen entscheidend. Für die wiegt das ganz gewiss schwerer als die Last der öffentlichen Verschuldung.

1 Jérôme Hananel, „ Évolution des salaires de base dans le secteur privé. Résultats provisoires du deuxième trimestre 2022“, Dares indicateurs, Nr. 38, Ministère du travail, du plein-emploi et de l’insertion, 12. August 2022.

2 Zahlen für 2019; siehe: „Indicateurs économiques et sociaux de la CGT“, Confédération générale des travailleurs, Montreuil, 6. April 2022.

3 Céline Mouzon, „Rémunération des fonctionnaires: un dégel ne fait pas le printemps“, Alternatives économiques, Paris, 30. Juni 2022.

4 Zitiert in Guillaume Jacquot, „La réforme des APL a fait plus de perdants que de gagnants, selon un rapport du Sénat“, Public Sénat, 26. November 2021.

5 „Rapport annuel du groupe d'experts SMIC“, Direction générale du Trésor, Paris, 15. Dezember 2021.

6 Mindestlohnstatistik, Eurostat, April 2022.

7 Insee Première, Nr. 1898, Paris, April 2022.

8 Michaël Zemmour, „La ‚prime Macron‘ creusement volontairement le déficit de la Sécurité sociale“, Le Monde, 20. Juli 2022.

Aus dem Französischen von Nicola Liebert