Biennale de Lyon: Opulente Geschichts­werkstatt

Nr. 45 –

Als Kommentar auf die verwirrte Gegenwart, aber auch als Reflexion auf die gastgebende Stadt als historisches Handelszentrum: Die 16. Biennale von Lyon hinterlässt visuell wie konzeptuell einen starken Eindruck.

Kunstwerk: Dana Awartanis «Standing by the Ruins of Aleppo», 2021
Subversiver Vorschlag für eine Erneuerung des Bodens der im Bürgerkrieg zerstörten Grossen Moschee: Dana Awartanis «Standing by the Ruins of Aleppo», 2021. © La Biennale de Lyon

«Manifest der Zerbrechlichkeit», der Ausstellungstitel der Biennale ist klug gewählt. Er steckt einen recht offenen Rahmen ab, in dem sich diverse akute zeitgenössische Befindlichkeiten kreuzen.

Die «Zerbrechlichkeit» beziehen die beiden Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath denn auch auf verschiedene lebensweltliche Dimensionen der Gegenwart: auf die Fragilität unseres Körpers und der Natur; auf ein ungemütliches Lebensgefühl der Verunsicherung, gegen das wir kaum noch ankommen; auf die Instabilität unserer Identität. Unaufdringlich, aber nachdrücklich werden in dieser 16. Biennale von Lyon die verstörenden Erfahrungen in einer postpandemischen Gegenwart aufgerufen und zueinander in Beziehung gesetzt. Der Kunst wie den Besucher:innen wird dabei der Raum geboten, diese Erfahrungen zu benennen und zu befragen.

Ein Beispiel: In den Hallen der einstigen Elektrogeräte- und Autofabrik Usines Fagor, von wo aus man sich die Biennale am besten erschliesst, treffen wir auf ein grosses Bodenmosaik von Dana Awartani. Die geometrischen Muster hat die saudische Künstlerin der präislamischen Formenwelt entliehen. Sie versteht sie als leise subversiven Vorschlag für eine Erneuerung des Bodens der im syrischen Bürgerkrieg zerstörten Grossen Moschee von Aleppo. Ein paar Schritte entfernt findet sich eine Installation des deutschen Künstlers Clemens Behr. Er spielt virtuos mit der in Lyon allgegenwärtigen brutalistischen Betonmoderne, als wolle er Vorschläge für Partydekor machen. So unterschiedlich die Werke sind, beiden geht es um ästhetische wie politische Gesten und Kräfte, die unsere Lebensräume zerstören oder gestalten – und beide versuchen, diesen etwas entgegenzusetzen.

Aufständische Seidenweberin

Es ist ein weiterer geglückter Kunstgriff, die gesamte Biennale aus der historischen Figur der Seidenweberin Louise Brunet zu entwickeln. Als junge Frau beteiligte sich Brunet an den legendären Lyoneser Arbeiter:innenaufständen von 1834. Sie kommt ins Gefängnis, wird als qualifizierte Handwerkerin «freigekauft», landet in einer französischen Fabrik in Beirut, entkommt. Ihre Spur verliert sich.

Die Biennale spinnt ihr Schicksal weiter. Sie skizziert ausgehend von Brunet individuelle, lokale und globale Geschichte(n) von körperlicher und struktureller Abhängigkeit und Gewalt wie auch dem Widerstand dagegen. Sie blättert diese Geschichten in einem reichen Kaleidoskop verschiedenster Kunstwerke auf, spiegelt sie ineinander, verdichtet sie schlüssig, bezieht sie auf die Gegebenheiten vor Ort: Schon die Römergründung Lyon ist ein Handelszentrum, die Biennale bezieht das sehenswerte Römermuseum vor Ort mit ein. In der Neuzeit wird Lyon als Drehscheibe des frühen Kapitalismus mit kolonialen Dependancen im Nahen Osten auch ein Zentrum des Arbeiter:innenwiderstands.

Heute ist Lyon das bedeutendste französische Wirtschaftszentrum neben Paris, mit einer entsprechend diversen Gesellschaft. Den Höhepunkt der historischen Verankerung dieser Biennale bildet eine sorgfältig recherchierte Rückblende auf die «goldenen Jahre» der Kunst in Beirut nach der Unabhängigkeit des Libanon von Frankreich 1943 bis zum Beginn des Bürgerkriegs 1975. Hier wird nicht nur ein in Europa wenig bekanntes Kapitel der modernen Kunst vorgestellt; es wird auch exemplarisch vorgeführt, wie diese zur gesellschaftlichen Verständigung und Selbstvergewisserung beitragen kann. Aber auch, wie abhängig sie letztlich von den Rahmenbedingungen ist.

Direkt ins Blut

Es kommt dieser Biennale zugute, dass sie ernsthafte Themen und Fragestellungen angeht, ohne uns diese verbissen aufzudrängen. Dabei vertrauen die Kuratoren der sinnlichen Dimension der Kunst, setzen lustvoll auf eine fast überbordende materielle Vielfalt – von der klassischen Skulptur bis zur Audioinstallation, von der Malerei bis zur Tapisserie. Selbst vor monumentaler Opulenz schrecken sie nicht zurück. An Pathoskitsch grenzt dabei die Inszenierung des belgischen Künstlers Hans Op de Beeck in einer riesigen Werkhalle: ein monochrom grauer Trailerpark nach irgendeiner Katastrophe. Einer der anwesenden Schulklassen souffliert denn auch der Lehrer, der vielleicht noch kein Foto von Hiroshima gesehen hat: «Pensez catastrophe nucléaire.» Klar, wo schon Wladimir Putin dauernd mit dem nuklearen Armageddon droht.

Immerhin geht diese Art von Kunst sofort ins Blut, packt das Publikum ebenso wie manche wunderbar kindische Verspieltheit. Zu dieser gehört etwa das über die gesamte Biennale verteilte moosgrüne Waldvölklein der Finnin Kim Simonsson. Kaum sympathisieren wir mit ihren drolligen Gestalten, lauern uns Sylvie Seligs ins Albtraumhafte verrutschte Kinderbuchfiguren auf, die Fluchtgeschichten erzählen. Düstere Assoziationen wecken auch mit Reispapier wie Verwundete bandagierte Porträts und Historienschinken aus dem Museumsdepot.

Ohne den allzu nahen Krieg in der Ukraine direkt zu thematisieren, wird mit solchen und anderen Werken auf ihn angespielt. Bei allem lassen Bardaouil und Fellrath der Kunst aber genügend Leine: Nicht jedes Werk muss restlos in ihrem Konzept aufgehen, dieses gar illustrieren. Nach der etwas lehrstückhaft auf die Kunstgeschichte fixierten Biennale von Venedig und einer Documenta, die zwar eine radikale Zukunftsperspektive für die Kunst zur Diskussion stellte, aber zumindest kommunikativ ungeschickt agierte, atmet man in Lyon erleichtert auf: So kann er funktionieren, der Dialog zwischen Kunst und Gesellschaft.

Die Biennale de Lyon läuft noch bis Ende Dezember. www.labiennaledelyon.com