Rojava: Türkische Kolonisierung

Nr. 45 –

Mit Vertreibungen, Umsiedlungen und islamistischen Söldnertruppen bedroht das Regime von Recep Tayyip Erdoğan die kurdische Selbstverwaltung in Nordsyrien.

Vor vier Jahren wurde die Region Afrin in Nordsyrien von türkischen Soldat:innen und verbündeten syrischen Rebellengruppen erobert und besetzt. Seitdem bestimmen sie die Geschicke vor Ort. Vor der Besetzung waren die Gebiete mehrheitlich kurdisch geprägt. Heute bilden Kurd:innen nur noch eine Minderheit. Seit der Besetzung der Stadt Afrin im März 2018 wurde mehr als die Hälfte der kurdischen Bevölkerung gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, und Tausende Binnenflüchtlinge aus anderen Gebieten Syriens – meist Araber:innen – wurden dort angesiedelt, so berichtet es das Rojava Information Center (RIC), eine unabhängige Medienorganisation mit Sitz in Nordsyrien, in seinem letzten «Occupation Report».

Es zeigt sich bereits jetzt, was Erdoğan unter seiner «Sicherheitszone» versteht.

Betroffen sind Hunderttausende Kurd:innen und andere ethnische und religiöse Minderheiten. Zu ihnen zählt Mohammed Suleiman, ein Bewohner von Afrin. Im Gespräch berichtet er, dass er 2018 aus der Stadt vertrieben wurde und seitdem in einem Geflüchtetenlager leben muss. Suleiman und viele andere Vertriebene sind überzeugt, dass durch die Besetzungen vor Ort ein «demografischer und gesellschaftlicher Wandel» geplant ist. Dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass auf öffentlichen Gebäuden in Afrin nun türkische Aufschriften prangen und die türkische Fahne weht. In jesidischen und alevitischen Dörfern werden sunnitische Moscheen gebaut und muslimische Feste gefeiert. Ganze Dörfer wurden zerstört, um Platz für neue Siedlungen zu schaffen.

Mitte Oktober übernahm in Afrin die islamistische Rebellengruppe Hai’ at Tahrir al-Scham (HTS) mit Einwilligung der Türkei die Region Afrin. Die HTS gilt als Nachfolger von al-Kaida in Syrien. Zwar wird sie von den USA und auch formell von der Türkei als Terrorgruppe eingestuft, faktisch arbeiten die Türkei und die HTS aber schon seit Jahren eng zusammen.

Machtverteilung im Norden Syriens und des Irak

Karte: Machtverteilung im Norden Syriens und des Irak
(grosse Ansicht der Karte) Karte: WOZ

Das alles spiegelt die zunehmende Rolle der Türkei und ihrer syrischen Verbündeten bei der Gestaltung der Zukunft Nordsyriens. Die kurdisch dominierten Selbstverteidigungskräfte YPG/YPJ werden von Ankara als Terrorist:innen unter Führung der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) betrachtet. Das wichtigste militärische Ziel der Türkei ist die Schwächung der Selbstverwaltung in Nordostsyrien. Die Autonome Region in Nord- und Ostsyrien (AANES) ist vielen unter dem Namen Rojava bekannt.

Politisch zersplittert

Seitdem türkische Panzer im August 2016 erstmals völkerrechtswidrig in Syrien einrollten, haben sich die Militäroperationen in Dscharābulus (2016), Afrin (2018) sowie um Serê Kaniyê und Tall Abdschad (2019) zu dauerhaften Besetzungen entwickelt, von denen insgesamt etwa zwei Millionen Syrer:innen betroffen sind. Es handelt sich um die grösste türkische Präsenz in einem arabischen Staat seit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs 1918 – und sie könnte noch grösser werden. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte dieses Jahr mehrfach angekündigt, erneut in Syrien einzumarschieren und eine dreissig Kilometer breite «Sicherheitszone» zu errichten.

Auch will Erdoğan die Selbstverteidigungskräfte der AANES aus den strategisch wichtigen Städten Tall Rifaat und Manbidsch vertreiben lassen. «Wir werden Tall Rifaat und Manbidsch von Terroristen säubern», sagte er, «und wir werden das Gleiche Schritt für Schritt in anderen Regionen tun.» Diese «Sicherheitszone» würde das Ende des Projekts Rojava bedeuten.

Seit der syrische Machthaber Baschar al-Assad den Volksaufstand von 2011 brutal niederschlug, ist Syrien politisch zersplittert. Assad hat mit Unterstützung Russlands und des Iran die Kontrolle über weite Teile des Landes wiedererlangt – er ist jedoch Präsident eines von Krieg und Armut geprägten Staates. Die kurdische Selbstverwaltung kontrolliert rund ein Drittel des syrischen Staatsgebiets. Sie gründet auf den Werten von Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie und muss sich gegen die Türkei, den Iran und Assad verteidigen. Nordostsyrien ist reich an natürlichen Ressourcen, darunter Öl, Gas und landwirtschaftlich nutzbare Flächen.

Die Überreste der syrischen Opposition wurden in den Nordwesten vertrieben, wo sie auf die militärische Stärke und die finanzielle Hilfe der Türkei angewiesen sind. Der Konflikt ist weitgehend eingefroren, die internationalen Bemühungen um eine politische Lösung der Syrienkrise sind zum Erliegen gekommen. Die düstere Realität Syriens ist, dass die faktische Teilung des Landes so lange andauern wird, wie Assad sich weigert, politische Kompromisse einzugehen.

In den von Ankara besetzten syrischen Gebieten findet aktuell eine «Türkifizierung» statt. Es gelten türkische Lehrpläne, Gehälter werden in türkischer Lira gezahlt, türkischsprachige Schulen werden eröffnet und eigene Gouverneure ernannt – all dies sind Anzeichen für eine dauerhafte Kolonisierung der Gebiete.

Erdoğan möchte dort den Grossteil der rund 3,7 Millionen syrischen Flüchtlinge ansiedeln, die im Zuge des syrischen Bürgerkriegs in die Türkei geflohen sind. Dies würde die demografischen Verhältnisse stark verändern. Viele von ihnen haben im sogenannten Islamischen Staat (IS) oder anderen dschihadistischen Gruppen gekämpft. Diese dann dort lebenden arabischen Syrer:innen wären auf türkische Unterstützung angewiesen – und politisch und ökonomisch abhängig. Faktisch hätte die Türkei damit einen Teil Syriens unter Kontrolle gebracht. Eine sukzessive Überführung der Gebiete in türkisches Hoheitsgebiet scheint möglich. Verteidigt werden diese Gebiete von mehr als 50 000 meist islamistischen Rebellenkämpfern, die von der Türkei ausgebildet und bezahlt werden.

Die Rolle der Milizen

Seit Erdoğan 2014 Präsident wurde, hat er begonnen, ein privates militärisches und paramilitärisches System aufzubauen, zu dem auch diese Söldnergruppen in Syrien gehören. Darunter finden sich verschiedene Gruppen, die früher in Opposition gegen das Assad-Regime gekämpft haben. Inzwischen gelten sie als Stellvertreterarmee der Türkei. In der Gegend von Idlib im Nordwesten Syriens beispielsweise herrscht die HTS. Ein Grossteil der weiteren nördlichen und westlichen Grenzregionen zur Türkei wird von Milizen kontrolliert, die der 2017 gegründeten sunnitischen Syrischen Nationalen Armee (SNA) angehören.

Zahlreiche SNA-Milizen unterstützen eine islamistische oder direkt dschihadistische Agenda, unter ihnen finden sich auch ehemalige IS-Kämpfer. Über Jahre wurde ihnen von der Türkei der Grenzübertritt nach Syrien ermöglicht, verwundete Kämpfer wurden in türkischen Krankenhäusern versorgt und Waffen sowie Ausbildung geliefert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der IS-Anführer Bakr al-Baghdadi im Oktober 2019 von US-Streitkräften im türkisch kontrollierten Idlib aufgespürt und getötet wurde.

 

 

Zwar gliedert sich die SNA wie eine konventionelle Armee in Divisionen und Brigaden, doch besteht kein einheitliches Kommando, wie das Rojava Information Center in einer Studie nachgewiesen hat. Auch wenn sich die Türkei um die Bildung einer gemeinsamen Zentrale nicht nur auf militärischer Ebene, sondern auch für die Verwaltung der besetzten Gebiete bemüht, muss man sich die Milizen doch viel eher als bewaffnete und um Macht und Einfluss konkurrierende Banden vorstellen. Die meisten nahmen bereits an den türkischen Militäroperationen teil und versuchen nun, ihre Kontrolle über die Gebiete im Norden und Westen des Landes auszuweiten. Dabei kämpfen sie auch häufig gegeneinander um die lokale Vorherrschaft, wobei es immer wieder zu teils tödlichen Zusammenstössen kommt, von denen auch die Zivilbevölkerung betroffen ist.

In diesen von der Türkei kontrollierten Gebieten zeigt sich somit bereits jetzt, was Erdoğan unter seiner «Sicherheitszone» versteht. Menschenrechtsorganisationen haben Tausende Fälle von unrechtmässigen Verhaftungen, Folter, Mord oder Vergewaltigungen registriert. Dutzende archäologische Stätten wurden von der Türkei zerstört. Ebenso kam es zu einem Anstieg an schweren Verbrechen: Rund 600 Menschen starben durch Militär- oder Polizeieinsätze; es kam zu mehreren Tausend Entführungen. Insbesondere in der von der Landwirtschaft geprägten Region Afrin wurden zudem widerrechtlich Zehntausende Olivenbäume gefällt, für viele Menschen die einzige Lebensgrundlage.

Zu all diesen Vorgängen schweigen die westlichen Regierungen sowie internationale Organisationen wie die Uno. Von der Nato, deren Mitglied die Türkei ist, gab es bisher keine offene Kritik an Erdoğans Kriegspolitik sowie an seinen islamistischen Verbündeten.

Widersprüchliche Signale

Die syrischen Söldnertruppen warten nur auf den Marschbefehl aus Ankara, um die «Sicherheitszone» zu schaffen. Der Einsatz solcher Gruppen hätte den Vorteil, dass internationale Kritik und auch rechtliche Verantwortung minimiert würden. Im August überraschte jedoch der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu auf eine Frage zur Syrienpolitik seiner Regierung mit einer so noch nie gehörten Ansage. «Wir müssen die Opposition und das Regime in Syrien irgendwie versöhnen», sagte er. Sonst werde es nie einen «dauerhaften Frieden» geben.

Innerhalb der Rebellengruppen sorgte diese Aussage für Empörung. In den von der Türkei kontrollierten Gebieten in Nordsyrien kam es zu Demonstrationen und Protesten von bisher mit der Türkei verbündeten syrischen Milizen. Sogar türkische Fahnen wurden verbrannt. Hinzu kommen Klagen über Unsicherheit und soziale und wirtschaftliche Missstände. Mehr und mehr Menschen wird klar, dass die Türkei in Syrien ihre eigenen Interessen verfolgt und nicht die der Syrer:innen. Infolgedessen kam es auch unter den Rebellengruppen zu Auseinandersetzungen und Kämpfen.

Dies deutet auf zunehmende interne Probleme der Milizen hin. Einige SNA-Gruppen folgen nicht einfach der Agenda Erdoğans, sondern würden ihren Widerstand gegen Assad mit oder ohne dessen Unterstützung fortsetzen. So kam es nach der Besetzung Afrins durch die HTS zu Auseinandersetzungen mit weiteren SNA-Gruppen, bei denen laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte 58 Menschen starben. Auf der einen Seite machen diese internen Auseinandersetzungen der Rebellengruppen die von der Türkei angestrebte erneute Invasion in der AANES unwahrscheinlicher, auf der anderen Seite führen sie zur weiteren Instabilität im Nordwesten Syriens.

Christopher Wimmer lebt und arbeitet als Sozialwissenschaftler und freischaffender Autor in Berlin. Die letzten Monate verbrachte er für journalistische Arbeiten und Recherchetätigkeiten in Nordostsyrien. Zuletzt erschienen von ihm «Die Kommunen vor der Kommune 1870/71» (Assoziation A) und «Lumpenproletariat» (Schmetterling Verlag).