Durch den Monat mit Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (Teil 3): Steht die Schweiz abseits der Weltgeschichte?

Nr. 46 –

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey leben seit fünf Jahren in Basel. Die beiden Soziolog:innen erklären, warum dem Streit in der Waschküche etwas Demokratisches anhaftet und wie sich die Konkordanz in die Stadt einschreibt.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey
Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: «Die Stürme machen immer einen Bogen um die Schweiz, weil ihre Stabilität für andere wichtig ist.»

WOZ: Frau Amlinger, Herr Nachtwey, was ist Ihnen direkt ins Auge gestochen, als Sie vom migrantisch geprägten Offenbach bei Frankfurt nach Basel gezogen sind?

Carolin Amlinger: Dass die Armut hier fast unsichtbar ist. Erst hat uns überrascht, wie blitzblank die Stadt ist und wie reibungslos alles funktioniert. Wir haben uns rasch wohlgefühlt, ein Gefühl der Irritation blieb aber.

Oliver Nachtwey: Als wir noch in Offenbach lebten, war der einzige öffentliche Spielplatz in unserer Nähe seit vier Jahren geschlossen, weil der Boden verseucht war. Der Spielplatz im Margarethenpark mitten in einem ehemaligen migrantischen Quartier ist ein krasser Kontrast dazu. Die Stadt Basel lässt das Planschbecken an heissen Sommertagen täglich mit frischem Wasser füllen. Wir haben nicht schlecht gestaunt.

Wer spielt und planscht denn heute im ehemals proletarisch geprägten Quartier?

Amlinger: Mit der kostenlosen öffentlichen Infrastruktur wird ein klassenübergreifender Austausch gefördert. Im Margarethenpark spielen Kinder aus sehr verschiedenen sozialen Milieus miteinander. Da mischen sich die Kids aus dem Villenquartier oben im Bruderholz mit den Sprösslingen der Hausangestellten, die dort putzt. Wir sehen zwar auch in Basel eine uns bekannte Segregation der Wohngebiete, aber die öffentliche Infrastruktur bietet Begegnungsräume, die uns zuvor eher unbekannt waren.

Das stützt das Selbstbild der Schweiz als Gesellschaft des Mittelstands.

Nachtwey: Basel ist eigentlich ungleicher als Offenbach – gerade weil so viel Reichtum vorhanden ist. Aber das Klassenelend hierzulande ist nicht so gross und wenig offensichtlich. Das hat damit zu tun, dass der Tieflohnsektor mit rund zehn Prozent weniger als halb so gross ist wie in Deutschland und das soziale Kellergeschoss in der Schweiz immer noch bewohnbar bleibt. Eine differenzierte Klassenanalyse des Landes wäre hochinteressant, speziell im Vergleich zu anderen europäischen Gesellschaften. Während der Arbeitsschutz tief ist, ist die soziale Daseinsvorsorge und Infrastruktur viel stärker in öffentlicher Hand.

In der Schweiz spielen der politische Ausgleich und die Kompromissfindung eine grosse Rolle. Das schlägt sich auch im alltäglichen Umgang nieder.

Amlinger: Ja, wir mussten die gängigen Umgangsformen erst erlernen. In Deutschland äussert man sich meist viel direkter, das Benehmen ist rauer. In der Schweiz wird Kritik hingegen in der Regel sehr indirekt geäussert, das muss man erst mal übersetzen. Man hat uns öfter gesagt: «Wir wissen ja nicht, wie Sie das in Deutschland machen, aber in der Schweiz …»

Das ist schon sehr typisch. Mussten Sie sich das in der Waschküche anhören?

Amlinger: Wir hielten das erst für einen freundlichen Hinweis (lacht). Es hat uns in der ersten Wohnung tatsächlich sehr irritiert, dass wir nur an einem Tag in der Woche waschen durften. Zugleich haben wir den Sinn dieser «gesteuerten Demokratie» auch eingesehen, weil eine Waschküchenanarchie auch konfliktbeladen ist.

Nachtwey: Ich fand «Der Waschküchenschlüssel» von Hugo Loetscher faszinierend. Das Schweizer System – das sich auch im Waschraum widerspiegelt – führt zu Diskussionen und setzt viel voraus, zugleich zeigt sich darin ein Bemühen um demokratischen Ausgleich. Diese Ambivalenz von Konflikt und Konkordanz kann man in der Schweiz oft beobachten. Eine Figur wie Christoph Blocher kann zwar gut gedeihen, aber wenn sie sich zu viel herausnimmt, wird sie zurückgestutzt.

Konnten Sie diese Ambivalenz auch in den hiesigen Coronaprotesten beobachten?

Nachtwey: Ja, die Massnahmengegner:innen waren zwar ebenso laut wie in Deutschland. Als aber die Mehrheit die Coronapolitik guthiess, flaute der Protest rasch ab. Das folgt einem Muster. In der politischen Auseinandersetzung wird erst heftig gestritten, der Akt der Abstimmung ist dann aber zugleich ein Akt der Befriedung.

Amlinger: Es gibt eine Art Rahmen der Konkordanz, aber innerhalb dessen werden politische Schlachten gekämpft. Es geht härter und zugleich freundlicher zu und her als in Deutschland, könnte man sagen.

Zum Selbstbild der Schweiz gehört auch die Neutralität, deren Auslegung in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine gerade heftig umkämpft ist. Ist man hierzulande zu sehr mit sich selbst beschäftigt, während die Weltgeschichte vorbeizieht?

Nachtwey: Die Weltgeschichte zieht nicht vorbei, die Schweiz befindet sich nur häufig im Auge des Orkans. Die Stürme machen aber auch immer einen Bogen um die Schweiz, weil ihre Stabilität für andere wichtig ist. Bankenwesen, Transithandel, internationale Organisationen: Die Schweiz ist quasi der Umschlagplatz des Kapitals und der Weltpolitik. Ich habe den Eindruck, dass man sich durchaus bewusst ist, dass die Schweiz bis vor 150 Jahren eines der ärmsten Länder Westeuropas war – und der enorme Wohlstand fragil ist. Das hat auch zur Folge, dass sich die Eliten nicht in internationale Konflikte einmischen wollen und dass eine konservative Grundstimmung vorherrscht.

Carolin Amlinger (38) und Oliver Nachtwey (47) leben und arbeiten seit fünf Jahren in Basel. Seit kurzem wohnen sie am Fuss des Bruderholz, an der Grenze zum Gundeli, wo alle gesellschaftlichen Schichten aufeinandertreffen.