Krieg gegen die Ukraine: Stille nach der Explosion

Nr. 46 –

Ein Raketeneinschlag in Polen stellt die Nato-Staaten auf den Prüfstand.

Unter einem Kollateralschaden versteht man im militärischen Fachjargon einen Schaden, der nicht beabsichtigt, aber dennoch in Kauf genommen wird. Nach allem, was bisher über den Einschlag einer Rakete auf einem landwirtschaftlichen Betrieb beim polnischen Dorf Przewodów nahe der ukrainischen Grenze letzten Dienstag bekannt ist, handelt es sich dabei um einen solchen Kollateralschaden. Das Wort verhüllt wie viele andere aus der rhetorischen Waffenkammer auch, dass ein Krieg tötet und immer unbeteiligte Opfer fordert. Zwei Menschen kamen bei der Explosion ums Leben.

«Zurückhaltung und Umsicht»

Noch in der Nacht auf Mittwoch gab US-Präsident Joe Biden an einer Krisensitzung am Rand des G-20-Gipfels auf Bali bekannt, es sei «unwahrscheinlich», dass die Rakete aus Russland abgefeuert worden sei. Später bestätigte Polens Präsident Andrzej Duda, dass die Rakete «höchstwahrscheinlich» von der ukrainischen Luftabwehr stammte.

Mit der Explosion ist zum ersten Mal ein Mitgliedstaat von EU und Nato direkt von den Kriegshandlungen betroffen. Die Antwort darauf stellte deshalb auch einen Test für die westlichen Regierungen dar. Sie reagierten fürs Erste mit Bedacht: Nach einer nächtlichen Krisensitzung forderte Polens Premierminister Mateusz Morawiecki «Zurückhaltung und Umsicht», und auch die am G-20-Gipfel versammelten Staatschef:innen hielten sich mit vorschnellen Urteilen zurück.

Nach einer Dringlichkeitssitzung der Nato trat Generalsekretär Jens Stoltenberg vor die Presse. Von einem Bündnisfall, wie er bei einem Angriff auf einen Nato-Staat eintritt, war aufgrund der Ursachen der Explosion keine Rede. Stoltenberg beschwor dennoch die Einigkeit im Militärbündnis: Man werde «wachsam, ruhig und eng abgestimmt» reagieren. Stoltenberg betonte auch: «Der Vorfall ist nicht der Fehler der Ukraine. Russland trägt eine Verantwortung, weil es den Krieg gegen die Ukraine fortsetzt.»

Rache an der Bevölkerung

Unbestritten ist: Ohne die russischen Bombardements am Dienstag hätte es auch keine fehlgeleitete ukrainische Luftabwehrrakete gegeben. Nach Angaben des ukrainischen Militärs waren die Angriffe die heftigsten seit Kriegsbeginn. Russland reagiert damit auf die Befreiung der Stadt Cherson durch die ukrainische Armee, die strategisch wie ideologisch eine herbe Niederlage bedeutet: Die jubelnden Einwohner:innen widersprechen augenscheinlich der Propagandamär des Kreml, sie würden lieber unter russischer Herrschaft leben.

Die Bombardements nach der Befreiung von Cherson richteten sich einmal mehr gezielt gegen die Infrastruktur in der Ukraine – und damit direkt gegen die Zivilbevölkerung: Mehr als zehn Millionen Menschen waren vorübergehend ohne Strom, auch die Trinkwasserversorgung fiel vielerorts aus. In Kyjiw trafen die Raketen zudem ein Wohnhaus und töteten dabei mindestens eine Person. Die ukrainische Regierung fordert deshalb erneut eine Flugverbotszone, unterstützt wird sie dabei von den baltischen Staaten.

Zwar steht Russland nach dem G-20-Gipfel in Indonesien noch isolierter da als zuvor: Mit Verweis auf die kriselnde Weltwirtschaft verurteilten auch China und Indien den Krieg gegen die Ukraine in der Schlusserklärung «aufs Schärfste». An seiner Pressekonferenz machte Stoltenberg aber klar, dass die Nato von einer Ausweitung der Luftverteidigung weiterhin absieht. Wladimir Putin bloss keinen Vorwand für noch heftigere, gar atomare Angriffe liefern, lautet die Devise der westlichen Regierungen.

Es bleibt ein schwierig auszuhaltendes Dilemma: Den Schaden von Putins Angriffskrieg, nicht nur den kollateralen, trägt somit weiterhin die ukrainische Zivilbevölkerung.