Durch den Monat mit Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey (Teil 4): Cancelt sich die Linke selbst?

Nr. 47 –

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben ihr NZZ-Abo gekündigt – zu langweilig. Was sie von rechten Kampagnen, der Schweizer Medienlandschaft und Reggaekonzerten halten.

Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger
«Einige haben gemerkt, dass man weit kommt, wenn man moralisch und betroffen auftritt. Die Rechten haben darauf längst reagiert»: Oliver Nachtwey und Carolin Amlinger.

WOZ: Frau Amlinger, Herr Nachtwey, welche Zeitungen lesen Sie?

Oliver Nachtwey: Als wir in die Schweiz gezogen sind, haben wir statt der FAZ die NZZ abonniert. Wir haben keine Berührungsängste mit konservativen oder liberalen Zeitungen – im Gegenteil: Man wird dort in der Regel gut informiert und kann sich mit anderen Meinungen auseinandersetzen. Im Feuilleton der NZZ war aber die Obsession mit der Identitätspolitik riesig. Das war im Grunde das, was sie linksliberalen Intellektuellen vorwerfen: Aktivismus. Irgendwann sind wir wieder zur FAZ zurückgekehrt, wo dieser schrille Ton seltener erklingt.

Carolin Amlinger: Man kann sich durchaus kritisch mit Identitätspolitik beschäftigen, aber die ewig gleiche Leier langweilt enorm. Im NZZ-Feuilleton wird ein therapeutischer Kampagnenjournalismus betrieben, damit sich ein bestimmtes Milieu etwas besser fühlen kann. Das war mir oftmals auch einfach zu aufdringlich und zu aggressiv.

Welche Schweizer Titel haben Sie stattdessen abonniert?

Nachtwey: Die «Basler Zeitung» und die WOZ lesen wir sehr gerne. Ich verstehe auch die Klage der hiesigen Linken über die mangelnde Medienvielfalt nicht. Wenn man berücksichtigt, dass die Schweiz etwa halb so viele Einwohner:innen zählt wie Nordrhein-Westfalen, ist die politische und regionale Vielfalt beträchtlich.

Amlinger: Linke Publikationen gibt es zwar weniger als in Deutschland, dafür sind sie oft handwerklich besser. Es ist allerdings befremdlich, wie salonfähig rechte Zeitschriften wie die «Weltwoche» sind. In Deutschland wird so etwas höchstens am Rand des bürgerlichen Milieus akzeptiert und gelesen.

Die «Weltwoche» kämpft in einer Einheitsfront mit der NZZ gegen die «Cancel Culture» und den Verlust der Meinungsfreiheit. Zielen die ideologischen Kampagnen auf einen wahren Kern?

Amlinger: Das mag sein, aber der liberale Philosoph Alexis de Tocqueville hat ein Paradox benannt, das wir für entscheidend halten: Wenn eine Gesellschaft gleicher wird, nimmt das Bewusstsein für die noch bestehenden Ungleichheiten zu.

Nachtwey: Je gleicher etwa die Geschlechter behandelt werden, desto illegitimer erscheinen die restlichen Unterschiede. Wenn eine Frau heute für die gleiche Arbeit fünf Prozent weniger verdient als ihr männlicher Kollege, wird das zum Thema. Sind Differenzen hingegen systematischer, wird gar nicht verglichen. Wir können heute tatsächlich einen Machtverlust der alteingesessenen – meist männlichen – Eliten beobachten, darum ist die Gegenbewegung auch so heftig.

Aber gibt es nicht auch einen moralisierenden Überschuss in der Linken?

Nachtwey: Soziale Bewegungen wie die Arbeiter:innenbewegung verstanden sich historisch als Initiative der überwiegenden Mehrheit für die überwiegende Mehrheit. Ihr Universalismus war jedoch mit Leerstellen gepflastert. Wenn man etwa das Combahee River Collective in den USA der siebziger Jahre anschaut, ging es auch noch den Schwarzen lesbischen Feministinnen um ihre Position innerhalb der Klassenbewegung gegen den Kapitalismus. Heute sehen wir hingegen häufig eine moralisch-rigide Argumentation, Politik wird oft nicht mehr auf eine universelle soziale Bewegung zurückbezogen, sondern vor allem auf die eigenen, individualistischen Anliegen – was in meinen Augen nicht sehr hilfreich ist. Hinzu kommt: Einige haben gemerkt, dass man weit kommt, wenn man moralisch und betroffen auftritt. Die Rechten haben darauf längst mit ihrer eigenen Identitätspolitik reagiert, indem sie sich als Kämpfer für die vermeintlich Abgehängten ausgeben.

Deren Klasse konstruiert die Rechte wiederum als weiss und männlich und verteidigt sie gegen die angebliche linke Dekadenz. Man konnte das in diesem Sommerloch beobachten: Der Konzertabbruch wegen der Rastas einer weissen Reggaeband in der Berner Brasserie Lor­raine wurde durch die gesamte Medienlandschaft gereicht. Sollte man sich auf eine Diskussion darüber einlassen?

Nachtwey: Die Problematik von Cultural Appropriation anzuerkennen, ist wichtig. Zugleich stellt sich aber natürlich die Frage, ob der Konzertabbruch die richtige Reaktion war. Die Linke sollte sich generell kritischer mit den eigenen Strategien beschäftigen, sie steckt nicht ganz unverschuldet in der Sackgasse. Immer wieder scheint es ihr wichtiger zu sein, die eigene moralische Überlegenheit zu demonstrieren, als sich auf die Widersprüche gesellschaftlicher Veränderung einzulassen. Sie legt viel zu oft den Rechten den Ball für den nächsten Skandal auf den Elfmeterpunkt.

Amlinger: Man beschränkt aber die eigene Handlungsfähigkeit, wenn man nach dem rechten Drehbuch spielt und diese Form der Öffentlichkeit bedient. Wir sollten die Angst überwinden, dass eine Abweichung von den eigenen Positionen eine grosse Gefahr sei, und Mehrdeutigkeiten zulassen. Die Linke sollte sich nämlich auch als Gemeinschaft mit ihren eigenen Chiffren und Codes reflektieren, die einen sehr ausschliessenden Charakter für jene hat, die diese nicht kennen.

Carolin Amlinger (38) und Oliver Nachtwey (47) gehen gerne mal im selbstverwalteten «Hirscheneck» in Basel essen, haben dort aber nie ein Reggaekonzert besucht.