Mobiler Coiffeursalon: Momente der Wandlung

Nr. 47 –

Seit Jahren schneidet Anna Tschannen armutsbetroffenen und obdachlosen Menschen die Haare. Und sie hält ihre Begegnungen in kurzen Texten fest. Was bewegt sie dazu, was löst sie damit aus? Eine Reportage aus der Offenen Kirche Elisabethen in Basel.

Foto aus der Vogelperspektive: Anna Tschannen beim Haareschneiden in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel
Profane Handlung am sakralen Ort: Anna Tschannen beim Haareschneiden in der Offenen Kirche Elisabethen in Basel.

Kaum hat man die Kirche betreten, ist man mitten in einem Clash der Atmosphären. Einerseits ist da diese weltliche Betriebsamkeit: Menschen, die eine Nummer ziehen und sich in eine Warteschlange einreihen – um irgendwann vor einem Tisch zu stehen, wo Lebensmittel verteilt werden, die sonst weggeworfen würden. Andererseits: stilles Warten, polyglottes Geflüster und mehrsprachiges Schweigen.

Die heilige Elisabeth, nach der die neugotische Kirche in der Basler Innenstadt benannt ist, ist die Schutzpatronin der Armen. Wie jeden Dienstagmorgen, wenn es «Tischlein deck dich» heisst, versammeln sich hier, in der ältesten interreligiösen Citykirche der Schweiz, armutsbetroffene Menschen aus der Region sowie Geflüchtete aus verschiedensten Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt. Und es werden immer mehr, wie Hans-Jörg Rudin bestätigt, der Leiter der Abgabestelle. An diesem Tag sind es am Ende knapp hundert Menschen, die mit dem Vorweisen einer Bezugskarte zum Preis von einem Franken eine Tasche mit Esswaren füllen können. Mehr, so Rudin, liege derzeit nicht drin, «der Kuchen wird kleiner» – alle Grossverteiler seien versucht, ihren Foodwaste so klein wie möglich zu halten, und die Kapazitäten der Abgabestelle sind ausgeschöpft.

Entsprechend streng sind die Kriterien, die für den Bezug einer solchen Karte von Kirchen, Hilfswerken oder Sozialämtern aufgestellt werden. Abgesehen von einer Gruppe von Gehörlosen dürfen Geflüchtete aus der Ukraine, die den Schutzstatus S haben, nur mitnehmen, was am Schluss vielleicht noch übrig bleibt. An diesem Tag waren es laut Rudin rund vierzig von ihnen, für die es noch etwas Gemüse, Früchte und Brotwaren gab, die Rudin gratis von lokalen Bäckereien und einem Obstbauern bezieht.

Während sich die Warteschlange nach und nach verlängert, spielt sich ganz vorne, im Chorraum, ein weiteres Geschehen ab. Nähert man sich dem Altar, offenbart sich, was sich hinter den beiden Paravents verbirgt: Bereits hat sich eine erste Kundin auf den Stuhl gesetzt und schaut in den Spiegel, der vor ihr am Altar lehnt. Hinter ihr ein Tischlein, auf dem Anna Tschannen ihre Scheren, Bürsten und Kämme ausgelegt hat.

Nahe am Menschen

Haareschneiden in einer Kirche? Schon als Kind habe sie sich dafür interessiert, «wie jemand in der Welt sitzt», verrät die Coiffeurin in einem Café unweit der Kirche. Schon früh sei für sie klar gewesen, dass sie dereinst eine Tätigkeit «nahe am Menschen» ausüben werde. Und noch etwas habe sie seit ihrer Kindheit fasziniert: Verwandlung. Dass sie aber irgendwann in einer Kirche, direkt beim Altar, der ja für Wandlung im eigentlich religiösen Sinn steht, arbeiten würde, hatte sie sich damals nicht gedacht, als sie die Lehre in einem Coiffeursalon begann, wo auch Angehörige des Basler «Daigs» verkehrten, deren Haare, so Tschannen, «nur die ganz Hohen berühren durften».

Tschannens Interesse galt mehr der anderen Seite der Gesellschaft. So begann sie, obdachlose Menschen anzusprechen und ihnen einen Haarschnitt anzubieten – und kam dabei auf die Idee eines mobilen Salons. Eines Tages, als sie damit auf der Galerie des «Unternehmens Mitte» gastierte, sass der damalige Leiter der Basler Heroinabgabestelle auf ihrem Stuhl, und daraus entstand die Idee, auch den dortigen Kund:innen einen Haarschnitt anzubieten. Das war 2006. Seither ist Tschannen jeden zweiten Mittwochnachmittag im Tagesheim für Obdachlose am Werk. «Sozialer Haarschnitt» nennt es Tschannen – auch als Gegenpol zu lukrativeren Aufträgen als Maskenbildnerin für Modeschauen, Fotoshootings, Filmdrehs sowie Produktionen am Theater Basel oder für freie Gruppen.

Anna Tschannen beim Schneiden der Haarspitzen
Fein und unaufdringlich: Tschannen in Aktion.
Haarklammer in den Haaren einer Person während dem Haareschneiden
«Haare an sich erzählen schon Geschichten», sagt Tschannen.
Antiker Handspiegel liegt auf einem kleinen Tisch
Man muss nicht immer reden, auch ein stiller Haarschnitt kann schön sein.
Anna Tschannen schneidet einem älteren Mann die Haare, welcher die Augen zukneift
Sinnieren über die Doppelmoral hiesiger Wohltätigkeit: Coiffeurarbeit über der Grabstätte des Kirchenstifters.

Die feine, unaufdringliche Art, mit der sich Tschannen bei der Arbeit nahe an den Menschen bewegt, hat sicher auch damit zu tun, dass sie eine Ausbildung in Tanz und Improvisation absolviert hat. Auch heute noch tritt sie zuweilen als Performerin auf und gibt Tanz- und Theaterkurse für kognitiv Beeinträchtigte. Ihr Bedürfnis jedoch, Menschen etwas weiterzugeben, «die körperlich zum Teil kaum noch einen Zugang zu sich selbst haben», lasse sich für sie am einfachsten als Coiffeurin erfüllen: «Haare wachsen immer; sie sind immer da – so kann ich diese Tätigkeit immer und überall anbieten.»

Warum aber gleich auch direkt hinter einem Altar? Die Idee dazu hatte Monika Hungerbühler, die ehemalige Leiterin der Offenen Kirche, nachdem Tschannen sie gefragt hatte, ob sie in der Kirche Haare schneiden dürfe. Mit Spektakel hat das nichts zu tun. Vielmehr ist der Altar als Ort der Wandlung für Anne Burgmer, die heutige Leiterin der Kirche, ein Zeichen dafür, «dass soziales Engagement auch eine spirituelle Bedeutung haben kann» – und ein Bekenntnis «für den Glauben daran, dass der Mensch neu werden kann».

Erhöhte Achtsamkeit

Seit 2017 arbeitet Tschannen in der Elisabethenkirche: am Freitag auf der Empore für Leute, die sich mehr oder weniger einen handelsüblichen Preis leisten können; am Dienstag beim Altar zu einem Preis von zwei bis sechs Franken für Armutsbetroffene.

Am Anfang habe sich das schon etwas seltsam angefühlt, an einer religiös derart zentralen Stelle Haare zu schneiden, gesteht Tschannen. «Aber mit der Zeit war es für mich ein Geschenk, dieses fröhliche Ritual dort anbieten zu dürfen.» Sie selbst sei ja nicht religiös im engeren Sinn, doch nur schon die Ehrfurcht vor diesem Ort habe ihr zu einer erhöhten Achtsamkeit in ihrer Arbeit verholfen.

Die erste Kundin an diesem Morgen, «Stadtbaslerin, die 42 Jahre in der Chemie gearbeitet hat», wie sie betont, scheint sich hinter dem Altar ausgesprochen wohlzufühlen. Und während Tschannen behutsam ihr Haar kämmt, bevor sie ihre Schere zur Hand nimmt, kommt sie ins Erzählen. Es entwickelt sich ein Dialog – oder vielmehr ein Monolog, unterbrochen durch kurze Zwischenfragen und gemeinsames Schweigen. Derweil der Blick der Frau auf ihrem Spiegelbild ruht, hantiert Tschannen konzentriert, fast wie eine Zauberin. Von Schnitt zu Schnitt hellt sich das Gesicht der Kundin auf – Wandlung im wahrsten Sinn.

Im Lauf der Jahre hat Tschannen ein feines Gespür nicht nur für Haare, sondern auch für damit verbundene Lebensgeschichten entwickelt und ist so zu einem Seismografen der gesellschaftlichen Entwicklung geworden. In Basel habe die soziale Segregation in den letzten Jahren stark zugenommen: «Es sind viele Nischen verloren gegangen.» Auch Altersarmut sei eine Realität, die ihr zunehmend begegne. Besonders nahe gehen ihr die Begegnungen mit Migrant:innen, denen «der Eintritt in die hiesige Gesellschaft erschwert oder gar verwehrt wird».

2019 veröffentlichte sie zusammen mit dem Regisseur Matthias Affolter den Film «Im Spiegel» – fünf Porträts von obdachlosen Menschen, denen sie im Tagesheim für Obdachlose regelmässig die Haare schneidet. Tschannen hat vor einigen Jahren damit begonnen, das eine oder andere aus den Gesprächen, die sich dabei ergeben, in kurzen Texten festzuhalten: «Haarige Geschichten in haarigen Zeiten». Über 200 davon sind bislang entstanden.

Anna Tschannen schneidet einer älteren Frau die Haare
Im Lauf der Jahre hat Tschannen ein Gespür nicht nur für Haare, sondern auch für damit verbundene Lebens­geschichten entwickelt.

Inzwischen sitzt an diesem Dienstag bereits ein zweiter Gast vor dem Spiegel, nachdem er still auf einem Sitzkissen auf dem Boden im hinteren Teil des Chorraums gewartet hat. Auf die Frage, ob er zu einem Gespräch bereit sei, lehnt er ab. Er schäme sich für seine Geschichte und wolle nicht, dass ihn seine Kinder in der Zeitung sähen, es tue ihm schrecklich leid – er entschuldigt sich mehrmals.

In der Chorbank wartet auch schon der dritte Kunde. Ein älterer Mann, der sich im Gespräch als evangelischer Theologe zu erkennen gibt und als solcher achtzehn Jahre im Kongo arbeitete, «zur Zeit von Mobutu», wie er betont. Noch immer betätige er sich ehrenamtlich als Seelsorger, so unterstütze er etwa eine Familie, die er zufällig kennengelernt habe. Wie es wohl dazu gekommen ist, dass er sich hier die Haare schneiden lässt? Auf die Frage, wie sich das für ihn theologisch anfühle, sich beim Altar, an diesem doch so aufgeladenen Ort, die Haare schneiden zu lassen, schaut er mit einem mehrdeutigen Lächeln in den Spiegel und schweigt. Dann aber, seine fein geschnittenen silbernen Haarspitzen glitzern im Licht des Scheinwerfers, kommt er auf die Krypta direkt unter dem Altar zu sprechen, wo in zwei schwarzen löwenfüssigen Marmorsarkophagen die Skelette von Christoph und Margaretha Merian-Burckhardt liegen – jenes Ehepaars, das den Neubau der Kirche in den 1850er Jahren finanzierte, als «Mahnmal gegen den Ungeist der Zeit und die Entchristlichung der Gesellschaft».

Und so kommt in diesem Moment hinter dem Altar, der ja ursprünglich als Opfertisch zur Vergebung der Sünden gedacht war, irgendwie alles zusammen – und damit auch die tief verwurzelte Doppelmoral der hiesigen Wohltätigkeit: Der Patrizier Christoph Merian (1800–1858) betrieb als stiller Teilhaber der Welthandelsfirma Burckhardt zwar nicht direkt Sklav:innenhandel, hatte offenkundig aber keine moralischen Bedenken, erheblich davon zu profitieren – und dafür als Gönner und Stifter so manche Institution für Armutsbetroffene ins Leben zu rufen. «Gönnerhaftigkeit, gebaut auf Unterdrückung», sagt der geheimnisvolle Theologe, dessen Gesicht innert weniger Minuten um einige Jahre jünger wirkt.

Kurz vor 11.30 Uhr, wenn Tschannen für gewöhnlich die Haare auf dem Marmorboden zusammenwischt und ihre Siebensachen wieder zusammenpackt, den Spiegel, den Scheinwerfer und die Tasche mit all den Scheren und Kämmen, eilt eine Frau aus der Ukraine zum Chor hinauf. Heute sei Vollmond, sagt sie, da würde sie sich gerne noch kurz die Spitzen schneiden lassen. Ein paar Schnitte später, und schon hat sich die Kirche geleert – die Stille ist zurück. Nur noch ein paar Helfer, die leere Kisten wegtragen – und Tourist:innen, die den Kirchenraum abfotografieren.

Neuerfindung vor dem Spiegel

Diese Stille gebe ihr ein Gefühl des Ankommens, sagt Tschannen kurz darauf im Café. Sie ist ein wenig erschöpft. Die «zwischenmenschliche Resonanz» hinterlässt ihre Spuren. «Für mich ist jede, die in diesem Stuhl vor dem Spiegel sitzt, eine Königin.» Die Erzählungen gehen ihr nahe. Da sei auch mal ein «stiller Haarschnitt» ohne viele Worte schön. Dann wiederum, bei Gesprächen, die ihr besonders interessant erscheinen, ertappe sie sich dabei, das Schneiden bewusst zu verlangsamen.

Manchmal sind es auch bloss einzelne Sätze, die Tschannen notiert. Wie zum Beispiel: «Was!? Du willst mir Ordnung auf dem Kopf machen!? Das mache ich schon selber»; «Kannst du mir da diese asozialen Haare wegschneiden?»; oder: «Bitte mach mir ein bisschen Revolution und ein bisschen Ordnung in die Haare.» Doch es sind nicht nur die mündlichen Erzählungen, die Tschannen registriert: «Haare an sich erzählen schon Geschichten. Sie spiegeln unsere Befindlichkeit oder geben preis, ob wir in geordneten oder ungeordneten Verhältnissen leben.» Es sei ja auch kein Zufall, dass ein neuer Lebensabschnitt oft von einem neuen Haarschnitt begleitet werde. «Wir haben die Wahl, wie wir unsere Haare als Ausdruck unseres Lebens gestalten wollen, was wir präsentieren – aber auch, was wir verbergen möchten.»

Gerade bei ihrer Arbeit im Tagesheim für Obdachlose sei dieser Impuls, einen neuen Lebensabschnitt beginnen zu wollen, bei einigen geradezu physisch spürbar. Da seien aber auch Momente, wo sie nur schon in einer leichten Berührung, feinstofflich fast, an den Haaren, am kalten Schweiss, spüre, wie einsam ein Mensch sein könne. Manchmal begegne sie auch Haaren, die ein erstaunliches Eigenleben entwickelt hätten – «als ob sie auf etwas warteten, das nicht kommt: lange Haare zum Beispiel, die wie ein Statement mit Bedeutung aufgeladen sind». Als sie einmal einen Mann auf einem Bänklein gefragt habe, ob sie ihm die Haare schneiden dürfe, habe dieser gesagt: «Nein, lieber nicht; sie sind das Einzige, was ich noch habe.»

Es bleibe eben immer etwas auf dem Stuhl sitzen, nachdem sie jemandem die Haare geschnitten habe, sagt Tschannen. «Durch das Aufschreiben kann ich Abstand gewinnen – und mich selber retten.»

Erster Schnitt: Marie

Ich kämme seine dunklen Haare über seine Stirn nach vorne, was ihn anders aussehen lässt.

«Und was willst du mit deinen kurzen Haaren machen?»

«Ich will sie eigentlich … endlich lang tragen!»

Er schaut lange in sein Spiegelbild.

«Dann schneide ich nur wenig ab!?»

«Wenn ich mich für den Ausgang bereit mache, würdest du mich nicht mehr erkennen.» Leise und eingeübt lacht er in den Spiegel. Seine dunklen, vollen Augen suchen Annahme.

«Dann trage ich eine Langhaarperücke und ein edles Dessous.»

«Hast du so ein Foto von dir?»

Ich drücke sein festes Ohr nach vorne, um dahinter alle Haare zu erwischen.

«Nein! Ich lösche die Fotos wieder, wegen meiner Familie.»

«Du siehst bestimmt toll aus!»

Mit weichen, schnellen Bewegungen streift er seinen Pulli über die kurzen, nach hinten frisierten Haare und über die kleine Wölbung seiner wachsenden Brüste.

«Danke. Fühl mich leichter.»

«Tschau, Marie.»

Jetzt sehe ich Marie, in allen Gesten. Sie zieht die schwere Rolltasche, vollgepackt mit Essen vom «Tischlein deck dich», apart über die drei Stufen beim Altar hinunter.

 

Zweiter Schnitt: D. mit den wilden Katzen

«Schneidest du mir den Bart weg?», fragt er, legt zehn Franken auf das Tischlein und beugt seinen Kopf nach unten. «So kann ich nicht mehr unter Leute, er muss weg!» Mit einem Griff zieht er eine Whiskyflasche aus seiner Tasche und nimmt einen grossen Schluck. «Und schneid mir ja nicht in die Kehle!»

Achtsam gleite ich mit dem Rasierer über Wangen und Hals. Die Form der Lippen und die Backenknochen werden sichtbarer. «Du bist ja noch jung», sage ich. Er öffnet seine Augen und schaut sich durch den Spiegel an: «Oh nein!», schreit er, «jetzt erkennen mich die Wildkatzen nicht mehr!» Er weint. «Bestimmt erkennen sie dich», sage ich vorsichtig, «sie riechen dich doch.» Meine Worte beruhigen ihn schneller, als ich dachte.

«Jeden Morgen sind sie da, auch die Igel huschen an mir vorbei, husch, husch», fährt er fort und zeigt mit dem Finger in die Luft. «Weisst du, die Katzen sind wild, sie können mir an die Kehle springen.» Ruckartig fasst er an seinen Hals. «Jetzt muss ich mir mein Parfüm wieder neu zusammenmischen! Mein Strassenparfüm», er lacht rau.

 

Dritter Schnitt: Frau aus Syrien mit Tochter

Mit ihrem kleinen Mädchen und vielen Taschen setzt sie sich hinter dem Altar auf den Stuhl.

«Weisst du, ich weiss, wie es ist, einen Krieg zu erleben!», sagt sie. «Nach langer Reise zu Fuss und mit Bussen kamen wir hier in Basel an, mit Trainerhose und einer Tasche. Es war kalt, ich verstand kein Wort.»

Sie schaut sich kurz im Spiegel an und streicht ihre hell gefärbten Haare zur Seite. «Nie hätte ich mich getraut, einen Haarschnitt zu verlangen», sagt sie. «Die Ukrainerinnen haben ja schon schön geschnittene Haare. Kann ich heute als Erste kommen?»

Eigentlich sei sie im Ramadan, aber jetzt, mit dem Kind im Bauch, könne sie nicht fasten.

«Schneide ein grosses Stück, auch kurze Fransen gerne!» Heute sei nationaler Feiertag in Damaskus, da passe es, Haare zu schneiden. Ihr junges Gesicht strahlt eine mütterliche Schönheit aus – und eine Kraft, als hätte sie allem schon in die Augen geblickt.

«Ich hoffe sehr, dass mein Mann bald aus Deutschland in die Schweiz kommen kann! Schon sieben Jahre warten wir auf seine Papiere, und jetzt kommt das zweite Kind zur Welt.»

Ich sehe die Erschöpfung in ihrem Gesicht. Ihre kleine Tochter schmiegt sich um ihre Beine. Ein paar der langen Strähnen fallen in die rosarote Kapuze vom Pulli des Mädchens.

 

Vierter Schnitt: Goldene Haare

Sorgfältig kämme ich durch ihr feines goldblondes Haar.

«Ich habe mich oft alleine als blinder Gast eingeschlichen, in irgendwelche Apéros oder Vernissagen … Niemand hat mich je aufgedeckt, ich war eben schön, das hilft», sagt sie und lacht.

«Geredet habe ich mit niemandem, im Geheimnissetragen bin ich eine Heldin. Und wenn mich jemand anlügt, spür ich es immer.»

«Spätabends habe ich mir dann irgendwo einen unsichtbaren Unterschlupf gesucht. Flink, sodass mich niemand entdecken konnte.»

Ich bürste ihre Haare nass über ihre Schultern und stelle mir vor, wie sie darauf ausruht, ein kleiner Schutz … ein kleiner Vorhang, hinter dem man für einen Augenblick Schutz findet.

Ich spüre ihre Anspannung, dass ich vielleicht zu viele Haare abschneide, und rieche ihr feines Parfüm.

Es ist still, nur feine blonde Haarspitzen, die neben uns auf den Boden fallen. «Jetzt endlich», sagt sie, «schaffe ich es, meine Geschichte aufzuschreiben. So wird alles ertragbarer.»

Alle «Schnitt»-Texte: Anna Tschannen