Nach der Befreiung: Schaschlik für die, die noch hier sind

Nr. 47 –

Swjatohirsk im ukrainischen Oblast Donezk war einst ein Ort der Erholung. Neun Monate Krieg haben eine Trümmerlandschaft hinterlassen. Und über die Frage, wer daran Schuld hat, sind sich längst nicht alle einig.

Wera Larina steht vor zerstörten Gebäuden und streichelt einen Hund
«Vor dem Krieg haben wir alle friedlich zusammengelebt»: Wera Larina war früher Musiklehrerin.

Es sind Bilder aus einer anderen Zeit, die auf Google Maps angezeigt werden: Swjatohirsk, ein idyllischer Erholungsort mit Hotels und viel Wald. Am Hang eines Hügels erhebt sich ein historisches Kloster mit goldfarbenen Kuppeln majestätisch über den Ort. Mit Wehmut erzählt Ihor Ponomarenko von der Zeit, als diese Bilder noch der Realität entsprachen. «Hier waren überall Menschen», sagt der 51-Jährige und zeigt um sich. Ponomarenko, Dreitagebart, freundliches Gesicht, steht im Zentrum der Kleinstadt und sucht vergebens nach einem Haus, das von den Kämpfen der vergangenen neun Monate verschont geblieben ist.

Drei Monate lang war der Ort mit seinen rund 4500 Einwohner:innen unter russischer Kontrolle und der Fluss Siwerski Donez, der zwischen Wohngebiet und Kloster entlang fliesst, die Frontlinie. Die russische Armee auf der linken Seite, die ukrainische auf der rechten. Sie lieferten sich heftige Gefechte; von manchen Gebäuden stehen nach der ukrainischen Rückeroberung im September nur noch die Grundmauern. Manchmal nicht einmal mehr die. Mehr als vierzig Menschen sind hier während des Krieges gestorben. «Liudy» – Menschen – haben manche in ihrer Verzweiflung auf die Gartentore und Hausmauern geschrieben, in der Hoffnung, so nicht zum Ziel zu werden.

«Liudy» – Menschen – schrieben manche in ihrer Verzweiflung auf die Hausmauern.

Während die Region Donbas im Osten der Ukraine gemeinhin als industrielle Gegend und für den Kohleabbau bekannt ist, hat Swjatohirsk bis zum russischen Angriffskrieg Tourist:innen aus dem ganzen Land angezogen. Heute ist alles anders. Restaurants, Hotels, Läden – niedergebrannt, zerbombt, geplündert. «Man kann sagen, dass hier eine Horde Orks durchgezogen ist», sagt Ponomarenko. Orks – Vollstrecker des Bösen aus «Der Herr der Ringe». So werden die russischen Soldaten von den Ukrainer:innen genannt. «Sie haben Armut hinterlassen und eine Rückkehr in die Vergangenheit. Wir brauchen jetzt Stromgeneratoren. Wir haben kein Licht, kein Abwassersystem, kein fliessendes Wasser, keinen Handyempfang.» Ponomarenko kämpft nun dafür, dass der Ort nicht ausstirbt. Er ist einer von etwa 650 Menschen, die noch immer in Swjatohirsk leben. Vor einem Monat hat er einen Imbissstand eröffnet.

Der Imbissstand als Lichtblick

«Was darf es heute sein?», fragt er einen jungen Mann in Camouflage und grillt das Fleisch, das er in der Stadt Charkiw eingekauft hat. «Schaschlik? Suppe? Kommt sofort.» Wie jeden Tag versammeln sich ukrainische Soldaten vor seinem Laden. Drinnen, in den Räumlichkeiten des von den Besitzer:innen verlassenen Kaffeehauses, sucht Ponomarenko zwischen Lebensmitteln und Benzinkanistern, die er ausserdem im Angebot hat, nach Plastikgeschirr und Salz. Er trägt eine Stirnlampe. Denn die Deckenbeleuchtung lässt sich schon seit Monaten nicht mehr einschalten. Durch die Fensterscheiben ziehen sich feine Risse, die mit Klebeband zusammengehalten werden. Für die Anwohner:innen ist der Imbissstand ein Lichtblick, ein sozialer Treffpunkt, der letzte im Ort.

Selbst inmitten dieser Trümmerlandschaft kann man sich Ponomarenko, den einstigen Touristiker, gut zu seinen Hochzeiten vorstellen. Bis zu 30 000 Menschen kamen vor dem Krieg in der Hochsaison in seinen Vergnügungspark am Rand der Ortschaft in einem tiefen Kiefernwald. Ein Ort, der zum Spazieren einlädt und an den einst vor allem Tagesausflügler:innen aus dem Oblast Charkiw anreisten sowie aus den Oblasten Luhansk und Donezk, in denen der Krieg schon seit dem Jahr 2014 wütet.

Ihor Ponomarenko an seinem Imbissstand
«Ich will, dass Russland mir alles zurückzahlt»: Ihor Ponomarenko an seinem Imbissstand.

Die Kletterwand steht noch. Doch aus den Trümmern zieht Ponomarenko an diesem Tag nur noch einen einzigen Teller, der auf wundersame Weise nicht zerbrochen ist. Die Seilbrücken, auf denen die Kinder früher von Baum zu Baum turnen konnten, sind abgebrannt. Auch hier, im mit Moos überwachsenen Waldboden, gab es Einschläge von Raketen. Die Feuer, die danach entstanden, haben das meiste, das Ponomarenko über Jahre aufgebaut hat, verwüstet. Zurück bleibt ein Unternehmer, der noch immer sein Darlehen zurückzahlen muss. 180 000 Hrywnja ist Ponomarenko der Bank schuldig – umgerechnet etwa 4700 Franken. «Den Vergnügungspark gibt es nicht mehr, aber die Schulden muss ich trotzdem abzahlen», sagt er. «In den neun Jahren, in denen ich diesen Park betreibe und das Gelände vom Staat pachte, habe ich circa 300 000 Dollar ausgegeben. Ich will, dass Russland mir das alles zurückzahlt.»

Seit dem Krieg obdachlos

Doch darüber, wer die Schuld an diesem Krieg trägt und wer zur Verantwortung gezogen werden soll, sind sich im Ort längst nicht alle einig. Auf der anderen Seite des Flusses will die Pensionistin Wera Larina, Mitte sechzig, das Interview auf dem Parkplatz des Klosters führen. Die zierliche Frau mit selbstgestrickter Mütze und Schal in purpurroter Farbe ist eine von etwa 200 Zivilist:innen, die seit dem Krieg obdachlos und hier untergekommen sind. Ohne Strom, ohne Handyempfang. «Für uns ist es eine schwierige Lage», sagt die frühere Musiklehrerin. «Wir haben kein Zuhause mehr.»

Larina stammt aus dem Dorf Bohorodytschne, dessen Namen auf Deutsch «Mutter Gottes» bedeutet. Vor dem Krieg konnte man die Ortschaft vom Kloster aus mit dem Auto in einer Viertelstunde erreichen. «Ich habe mit anderen Anwohner:innen in unserer Kirche gelebt», erzählt Larina über die letzten Wochen in ihrem Heimatdorf. «Mit mir waren alte Menschen, Menschen mit Behinderung, Kinder. Aber sie haben die Kirche immer weiter bombardiert, Tag und Nacht, bis die Wände zusammengefallen sind.» Anfang Juni wurde das Dorf von den russischen Truppen angegriffen. Larina jedoch ist davon überzeugt, dass die Angriffe von der ukrainischen Armee gestartet wurden. «Das alles ist schwer zu verstehen. Vor dem Krieg haben wir alle friedlich zusammengelebt, die Westukrainer und wir im Donbas. Warum alles zerstört wurde, verstehen wir nicht.» Viele der mittellosen Menschen, die mit Larina leben, sympathisieren mit Russland. Das Kloster wird von der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats kontrolliert und wurde von den ukrainischen Behörden in der Vergangenheit wiederholt als prorussisch kritisiert.

Am Nachmittag fährt draussen auf dem Parkplatz ein Kleinbus vor und bringt humanitäre Güter. Dutzende Frauen kommen aus dem Klosterkomplex, reihen sich in die Schlange ein und warten auf die Ausgabe von Lebensmitteln und Kleidung. Auch Wera Larina. Mit einem Lächeln bringt sie die Kartonschachtel und will zeigen, was sich darin befindet, Pasta, Reis. Plötzlich nähert sich von hinten ein Wachmann und sagt: «Bitte gib kein Interview. Es reicht. Das brauchen wir nicht. Du gibst keine Interviews mehr, verstanden?»

Das Kloster und die darin lebenden Mönche unterliegen einer strengen Hierarchie. Auch deshalb wollen an diesem Tag die wenigsten mit Medien sprechen oder zitiert werden. Dabei ist das Kloster selbst eine von landesweit 270 religiösen Stätten, die laut dem ukrainischen Staatsdienst für Ethnopolitik und Gewissensfreiheit in der Zeit zwischen dem 24. Februar und dem 20. September ganz oder teilweise zerstört wurden. Drei Mönche und zwei Nonnen kamen im Juni durch die Kämpfe ums Leben. Weisse Holzkreuze markieren ihre Gräber auf den kleinen Grasflächen neben der Hauptkirche. Daneben sonnen sich Katzen und Hunde, die von ihren Besitzer:innen in der Gegend zurückgelassen wurden.

Der kommende Winter

Wie gross das Misstrauen gegenüber der orthodoxen Kirche ist, zeigte sich in den ersten Monaten des Krieges. Der Gemeinderat der westukrainischen Stadt Lwiw hat der Kirche, die mit Moskau verbunden ist, bereits Ende Juni sämtliche Tätigkeiten verboten.

«Welche Rolle und welchen Einfluss das Kloster hat, ist sehr schwierig zu beantworten», sagt Wolodimir Ribalkin. Im Frühjahr war er Kommandant der territorialen Verteidigungskräfte in Swjatohirsk, nun leitet er die hiesige Militäradministration. «Das Kloster untersteht dem Moskauer Patriarchat und Punkt», sagt er. «Die Menschen, die dorthin geflohen sind, haben auf die ‹Russki Mir›, das ideologische Konzept der ‹Russischen Welt›, gewartet. Aber die ist nicht gekommen.»

Obwohl die ukrainischen Behörden angekündigt haben, hart gegen Kollaborateur:innen vorzugehen, wird laut Staatsanwaltschaft derzeit nicht gegen die Mönche und die Bewohner:innen des Klosters ermittelt. Dafür wurden gegen 26 Bewohner:innen von Swjatohirsk Strafverfahren wegen Zusammenarbeit mit der russischen Seite und Spionage eröffnet. «Die Frage nach der Rolle des Klosters wird dann gestellt, wenn der Krieg und die Kämpfe im Territorium des Landes vorbei sind», erklärt Ribalkin. Derzeit fokussiert sich die lokale Verwaltung kurz vor dem bevorstehenden Winter vor allem auf die Evakuierung jener, die im Ort zurückgeblieben sind. Doch viele weigern sich zu gehen. Darunter auch Ihor Ponomarenko.

Er schläft zwar abwechselnd bei Verwandten in der Stadt Charkiw und hier in Swjatohirsk, doch er will seinen Heimatort nicht aufgeben. «Selbst wenn hier nichts mehr steht – ich habe einen Kessel, und ich werde mich danebenstellen und kochen», sagt er. Aus seinem schwarzen Rucksack, in dem er stets ein Erste-Hilfe-Set und Batterien mit sich trägt, kramt er ein Paar Socken, das ihm seine Töchter geschenkt haben. «Russisches Kriegsschiff, fick dich», steht darauf. Auf die Frage, welche langfristigen Pläne er hat, sagt er: Keine. Wie auch. Denn immer wieder schlagen russische Raketen im Ort ein. «Ich werde so lange hier arbeiten, wie mich die Menschen hier brauchen.»

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