Hans Magnus Enzensberger (1929–2022): Den Kurs setzen und Fahrpläne lesen

Nr. 48 –

Drei Jahrzehnte lang war er einer der prägenden deutschsprachigen Intellektuellen. Als Essayist, Herausgeber, Lyriker und Übersetzer hinterlässt Hans Magnus Enzensberger vielfältige Spuren und ein kaum zu überblickendes Gesamtwerk.

Mit Jahrgang 1929 gehörte Hans Magnus Enzensberger noch der Generation an, die das Naziregime und den Zweiten Weltkrieg miterlebt hatte, mit fünfzehn Jahren war er als Flakhelfer eingezogen worden. Nach dem Krieg studierte er Germanistik, danach wurde Alfred Andersch, wie für viele andere, sein erster Förderer beim Süddeutschen Rundfunk.

In der Öffentlichkeit trat Enzensberger zuerst als Lyriker auf. Der Gedichtband «verteidigung der wölfe» demonstrierte eine neue Sachlichkeit, trat in einer entschlackten Sprache gegen die versumpften fünfziger Jahre und die Adenauer-Republik an. «landessprache» (1960) und «blindenschrift» (1964) verschärften die Kritik an Deutschland, «dem unheilig Herz der Völker», wo es in der einsetzenden Nachkriegskonjunktur «aufwärts geht, aber nicht vorwärts». Neben den eigenen Gedichtbänden schloss er mit der von ihm verantworteten Gedichtsammlung «Museum der modernen Poesie» (1960) die deutsche Literatur an die europäische Moderne an.

Die Story als Konsumgut

Fast gleichzeitig erschienen die ersten Essays, so 1957 «Die Sprache des ‹Spiegel›». Den damals zum Leitmedium aufgestiegenen «Spiegel» wegen seiner Haltung zu kritisieren, sei hilf‌los, da dieser gar keine Haltung habe, erklärte er. Kritik müsse sich vielmehr auf dessen sprachliche, ideologische Mechanismen konzentrieren. Ebenso präzise wie boshaft entlarvend und unterhaltsam arbeitete er diese heraus: Jargon, verstecktes Vorurteil und angestrengte Humorigkeit, ein ahistorisches Denken, das Sachverhalte erst als existent erkläre, wenn sie im Magazin vorkämen, ein Voyeurismus durch angeblich exklusive Enthüllungen, insgesamt: die Story als reines Konsumgut. Das liest sich, 65 Jahre später, erstaunlich aktuell.

Überhaupt waren Enzensbergers frühe sprachkritische Analysen von Tageszeitungen, Wochenschau und Versandkatalogen von hoher Anschaulichkeit. Man kann darin ein Parallelprogramm zu Roland Barthes’ «Mythen des Alltags» von 1957 sehen, bevor diese noch ins Deutsche übersetzt waren. Die Analysen der Kulturindustrie von Horkheimer/Adorno in der «Dialektik der Aufklärung» wurden leichtfüssig aktualisiert. Dabei schuf Enzensberger den weiter ausgreifenden Begriff «Bewusstseins-Industrie», der durchaus bahnbrechend wirkte.

Verlust der Differenziertheit

Im ersten Gedichtband hatte er «ins lesebuch für die oberstufe» gefordert: «lies keine oden, mein sohn, lies die fahrpläne: / sie sind genauer». Man kann darin die «Sprache des HM Enzensberger» aufspüren: provokativ, lakonisch, eingängig, in einem aufklärerischen Fortschrittsglauben, den er zugleich ein wenig spöttisch ausstellt. 1965 lancierte er, zusammen mit Karl Markus Michel, den eigenen Fahrplan: das Magazin «Kursbuch». Dessen Einfluss lässt sich kaum überschätzen. Hier wurden, mit vier Ausgaben pro Jahr, alle Themen vor und nach 68 behandelt: Vietnam, Kulturrevolution, Psychiatrie, Antiimperialismus, Formen des Politischen und der politischen Gewalt, deutsche Notstandsgesetze, Sexualpolitik.

Mit der Zeit geriet ihm das «Kursbuch» ein wenig aus dem Blick. Der Gedichtband «Mausoleum» von 1975 zeigte Fortschrittsskepsis an. In 37 Balladen porträtierte er – mit kaum einer Frau in Sicht – Wissenschaftler, Techniker, Künstler aus der «Geschichte des Fortschritts». 1978 war ihm im Langgedicht «Untergang der Titanic» der Fortschritt noch brüchiger geworden. So gründete er 1980 zusammen mit dem ehemaligen Studentenführer Gaston Salvatore die Zeitschrift «TransAtlantik». Während die internationale Ausrichtung noch einiges Verdienst hatte, wurde die Kultur wieder entpolitisiert und zuweilen geschmäcklerisch als reines Bildungsgut gefeiert. Nach zwei Jahren schied Enzensberger im Streit mit dem Verlag, der eine weitere Kommerzialisierung verlangte. Seinen «Lieblingsflop» hat er das später etwas kokett genannt.

Die Essays aus den achtziger Jahren zur bundesdeutschen Wirklichkeit bündelte er unter dem Titel «Mittelmass und Wahn». Darin beschrieb er die neue Normalität Westdeutschlands mit scharfem Blick, aber auch in widerwilliger Anerkennung, und er distanzierte sich von einer als Ritual abqualifizierten generellen Gesellschaftskritik. Zugleich richtete sich sein Interesse, mit gutem Gespür, auf Zentral- und Osteuropa; der Band «Ach Europa!» versammelte 1987 «Wahrnehmungen aus sieben Ländern». Aber der Epochenumbruch von 1989 traf auch ihn weitgehend unerwartet. Persönlich und öffentlich wurde der erste Golfkrieg 1991 zu einer Wegscheide. In einem Essay bezeichnete er Saddam Hussein als «Hitlers Wiedergänger». Seine frühere Differenziertheit hatte sich zu einem unbrauchbaren Vergleich unterschiedlicher Diktaturen verfestigt, und er unterstützte vorbehaltlos den US-Einmarsch in den Irak.

Eine andere Bibliothek

Vielleicht war das ihm am meisten gemässe Projekt «Die Andere Bibliothek», die Enzensberger 1985 zusammen mit dem Schriftsetzer Franz Greno gründete und bis 2004 herausgab. Diese Bibliothek bestand aus wunderbar gestalteten bibliophilen Bänden, im Abonnement zu beziehen, mit Sachbüchern und Literatur, bekannten und vergessenen Klassikern, Geheimtipps und Ausgrabungen sowie neuen Autor:innen wie Christoph Ransmayr und Irene Dische. Es bleibt im Rückblick eine eindrückliche Schatzkammer, bestückt durch Enzensbergers Neugier, sein ästhetisches Sensorium und seinen eklektischen Spürsinn.

In all den Jahren hat Hans Magnus Enzensberger rund drei Dutzend Bücher aus dem Fundus einer lateinamerikanischen, US-amerikanischen und europäischen Moderne übersetzt. Wohl noch mehr Bücher hat er als Herausgeber betreut, mit Vor- und Nachworten versehen. Eine seiner immer wieder aufgegriffenen Lieblingsfiguren war der französische Aufklärer Denis Diderot (1713–1784). Ihn verstand Enzensberger als einen der ersten Intellektuellen, der sich auf dem neu entstandenen Markt einer aufgeklärten bürgerlichen Öffentlichkeit behaupten musste, unermüdlich tätig, sich einer Vielfalt von Genres bedienend, so wie es Enzensberger selber tat.

Nach 1991 wurde er erneut zum gefragten Essayisten, mit zunehmend kulturkritischen, konservativen Positionen, etwa zu Migration und Asylpolitik. Doch seine Meinungsmacht nahm ab, von lauteren oder prononcierteren Stimmen übertroffen. Vermehrt wandte er sich wieder der Lyrik zu. Schon 1961 hatte er im Band «Allerleirauh» Reime, Gedichte und Lieder für Kinder versammelt, die über das Herkömmliche und Beschauliche hinausgingen und an Fantasie ebenso wie eigenes Denkvermögen der Kinder appellierten. 1997 wurde ein Kinderbuch zu einem seiner grössten Erfolge: «Der Zahlenteufel. Ein Kopfkissenbuch für alle, die Angst vor der Mathematik haben». Es lässt sich als eine Anleitung zu aufgeklärtem naturwissenschaftlichem Denken sehen, wobei sich der Autor für einmal nicht mehr mit Politischem abmühen muss.

Am 24. November ist Hans Magnus Enzensberger, 93-jährig, gestorben, als Repräsentant einer Epoche, die längst vergangen, aber noch nicht eingelöst ist.