Brief aus Casablanca

Le Monde diplomatique –

Blick über die Dächer von Casablanca
Foto: MARTINA KATZ/picture alliance/imagebroker

Ich schreibe euch aus Casa. Dieser Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich aufgewachsen bin, in der mein Vater begraben liegt.

Ich weiß nicht mehr, ob ich sie liebe, diese Stadt. Es fällt mir zunehmend schwer, sie zu verstehen. Aber es ist meine Stadt. I belong there, wie man so sagt. Etwas von dieser Stadt durchfließt mich. Diese Stadt ist unermesslich. Vielgestaltig. Sie ist viele.

Sie ist nicht die Hauptstadt des Landes. Aber sie ist sein neuralgisches Zentrum. Sie ist so marokkanisch wie sonst keine. Sie vereint alles in sich, was Marokko sein kann. Sie ist modern, archaisch und widersprüchlich. Das Schlimmste und das Beste. Voller Irrtümer und voller Hoffnungen.

Sie kann chaotisch sein. Grausam. Sie kann liebenswürdig sein. Spaltend. Zynisch. Mächtig. Weiß. Grau. Bunt. Großzügig. Frei. Schwer zu verstehen, auf einen Begriff zu bringen. Dem Atlantik zugewandt, mit mediterraner DNA.

In Casa sind rote Ampeln allegorisch: das klapprige Motorrad neben dem in Tanger produzierten Dacia und dem neusten Tesla. Alles und sein Gegenteil. Alles zugleich.

Man sagt, sie sei mythisch, geschichtsträchtig, eine Filmstadt.

Ich gehöre nicht zu denen, die zu solchen angestrengten Mythen neigen.

Das berühmte Habous-Viertel lässt mich kalt, diese neue Medina aus der Zeit des französischen Protektorats. Ich erkenne an, dass es ein Meisterstück ist, ein Stadtviertel, in dem sich traditionelle Bauweise und moderne Architektur vereinen. Aber das war’s, damit enden meine Gefühle.

Dann ist da dieser Film von Michael Curtiz. Natürlich ist „Casablanca“ ein großer Film. Natürlich hat mich das Liebespaar Ingrid Bergman und Humphrey Bogart fasziniert. Natürlich hat mich diese Geschichte berührt. Rick’s Café, Zufluchtsort von Menschen, die falsche Papiere brauchen, da habe ich mir schon Fragen gestellt. Allegorie des menschlichen Zynismus, ein großer Film, ja. Aber weit weg, sehr weit weg von Casa.

Dennoch, diese Stadt ist kinotauglich, sie ist fotogen. Die schönste ist sie nicht. Sie ist nicht Marrakesch, die Stadt zum Träumen. Sie ist nicht Tanger, diese Postkartenschönheit. Sie ist nicht exotisch. Sie wird als „Weiße Stadt“ bezeichnet, ist es aber nicht wirklich. Sie ist eine Großstadt mit mehr Unannehmlichkeiten als Annehmlichkeiten. Staus, die immer länger werden. Der Kapitalismus, der alles zermalmt. Aktivitäten ohne Ende. Casa ist unvollkommen, anstrengend, leidenschaftlich. Sie ist lebendig.

Manche Fotografen schaffen es, das einzufangen. Die Aufnahmen von Hassan Ouazzani, Zineb Andress Araki und Mehdy Mariouch bewegen mich sehr. Ihr Blick auf die Stadt ist poetisch. Und sie versuchen nicht zu tricksen. Sie versuchen nicht, Casa aufzupolieren, ihre Bilder sind ehrlich und liebevoll. Sie zeigen die Stadt, wie sie ist. Casablanca ist nicht hübsch. Aber Casablanca kann sehr schön sein.

Filme haben die Stadt in Szene gesetzt. Der Regisseur Nabil Ayouch hat von Straßenkindern in Casa erzählt, kraftvoll und realistisch. Sein Film „Ali Zaoua“ ist ein Meisterwerk, eindringlich und zwingend. Nour Eddine Lakhmari hat mit „Casanegra“ ein pulsierendes und raues Porträt der Stadt geschaffen.

Ich habe als Schauspielerin in zwei Filmen mitgewirkt, in denen Casablanca die Hauptrolle spielt. „Marock“ von Laïla Marrakchi ist ein Kultfilm: eine Chronik des atemlosen Lebens der marokkanischen Jeunesse dorée. Reiche Stadtviertel, Diskotheken, Autorennen und Privatclubs am Strand. Dagegen ist „Ein Film …“ von Mohamed Achaour wie ein UFO. Eine zugemüllte Wohnung, düstere Bars, surrealistische Jahrmärkte, breite, wuselige Boulevards. Man könnte meinen, die beiden Filme handeln von unterschiedlichen Städten. Aber es ist ein und dieselbe.

Casa, das ist auch ein Rhythmus. Als Schülerin war ich das erste Mal bei „L’Boulevard“, einem Festival für urbane Musik, anfangs in einem kleinen Club, 20 Jahre später in einem Stadion. Als Zwanzigjährige entdeckte ich dort die Rockmusik für mich. Live und magisch. Jugendliche Melancholie und kreischende Gitarren, da fing ich Feuer. Möge es noch lange brennen.

„L’Boulevard“ hat für mich immer noch etwas Magisches. Es ist der Ort für starke und befreiende Gefühlsausbrüche. Ein Raum sozialer Mischung, von denen es in diesem stark segregierten Land so wenige gibt. Dieses Festival hat mehr für das kulturelle Leben getan als ein Dutzend Minister. Vor 20 Jahren erlebte ich dort zum ersten Mal Hoba Hoba Spirit, eine Band aus Casablanca. Ihre Musik ist etwas zwischen Rock und Reggae, mit Anklängen traditioneller Volksmusik. Hoba Hoba Spirit singen Marokko. Sie bringen Leute beim Tanzen zusammen, die sich sonst nie begegnen würden, die in derselben Stadt leben, aber nicht in derselben Realität.

Nicht immer hat die Musik Menschen zusammengebracht.

Am 14. Februar 2003, als sich Menschen zum Valentinstag Rosen schenkten und ihre Initialen in Baumrinden ritzten, wurden in Casablanca 14 Hardrock-Musiker in ihren Wohnungen verhaftet. Sie hätten zu laut Gitarre gespielt, zu laut geschrien und sich schwarz angezogen. Angeklagt wurden sie wegen „Satanismus“, „Blasphemie“, und dem „Besitz von Gegenständen, die mit den guten Sitten unvereinbar sind“.

Als Beweisstücke wurden beschlagnahmt: T-Shirts, eine Schlange aus Gips, Totenkopfbilder und eine Gitarre. Es war ein surreales und verstörendes Spektakel, ein Prozess ohne Verbrechen. Ein Teil der Zivilgesellschaft ging auf die Barrikaden. Die Musiker wurden freigelassen. Ich erinnere mich an eine Demonstration, auf der wir skandierten: „Ich wähle, also sing ich.“ Die große Solidarität machte Hoffnung, aber die ganze Sache hätte gar nicht erst passieren dürfen.

Ein paar Monate später, am 16. Mai, erschütterte eine Serie von Selbstmordanschlägen die Stadt. 33 Tote, 100 Verletzte. Es war der erste Terroranschlag in Casa. Das erste Mal, dass ich wirklich Angst bekam. Das erste Mal, dass mich die soziale Spaltung in Unruhe versetzte. Das erste Mal, dass ich sehr klar spürte, welchen Horror eine faschistische Ideologie des Islamismus heraufbeschwören kann. Ich fühlte mich terrorisiert.

Schon ein paar Jahre zuvor hatten die Islamisten begonnen, der Stadt ihren unheilvollen Stempel aufzudrücken. Ende 1999 wollte Mohammed VI., der gerade erst den Thron bestiegen hatte, das Familiengesetz reformieren. Der Wind der Gleichheit schien durchs Land zu wehen.

Im März 2000 demonstrierten 200 000 Menschen nach einem Aufruf islamistischer Gruppen, um gegen das Reformprojekt zu protestieren, es sei unmoralisch und nicht mit muslimischen Werten vereinbar. Plakate mit finsteren Losungen. Männer auf der einen Seite, Frauen auf der anderen. Bestens organisiert. Erschreckend.

Am Ende kam die Reform trotzdem. Das Heiratsalter wurde auf 18 Jahre angehoben. Die Polygamie wurde eingeschränkt. Die Praxis des „Talaq“ (Verstoßung), die es dem Ehemann ermöglicht, sich einseitig scheiden zu lassen, wurde verboten. Das sind wichtige Fortschritte. „Historisch“, wie manche Kommentatoren meinten. Vielleicht … Aber meine Begeisterung hielt sich in Grenzen. Eine Sache wurde durch die Reform nicht angetastet: das Erbrecht.

Es ist absolut ungerecht geblieben. Eine Frau erbt nur halb so viel wie ihr Bruder, himmelschreiendes Unrecht. Und es wird weiter hingenommen und sogar gerechtfertigt. Warum? Weil es geschrieben steht im heiligen Koran, deshalb kann es nicht geändert werden. Im Koran steht aber auch, dass einem Dieb die Hände abgehackt werden sollen, und niemand macht einen Aufstand, dass dieses Gebot – Gott sei Dank – hier nicht mehr gilt. Was ist also das Problem? Dass es um Geld geht? Nicht nur. Es geht auch um die Erbfolge.

Ich habe keinen Bruder. Wenn meine Eltern sterben, muss laut Gesetz mein nächster männlicher Verwandter ausfindig gemacht werden. Ein entfernter Cousin meines Vaters? Egal. Irgendeinem Typen steht mehr zu als mir. Absurd und empörend. Sollen sie nur weiter Gipfel zur geschlechtlichen Gleichstellung veranstalten, für mich ist das nur heiße Luft. Solange ich beim Erben nur halb so viel wert bin wie ein Mann, kann mir niemand mit dem Wort Gleichheit kommen.

Am 20. März 2011 sah ich Casa so schön wie nie zuvor. Es war ein Sonntag. Und es gab eine Demonstration. Ich sah Männer und Frauen, die für ihre Würde auf die Straße gingen. Einige hatten noch nie demonstriert. Manche hatten nie geglaubt, dass sie das Recht dazu hätten. Es war die Zeit, die in den westlichen Medien Arabischer Frühling genannt wurde. Aber auf unserer Seite des Mittelmeers blühten die Knospen nicht auf. Es kam ein islamistischer Herbst.

Bei den Wahlen 2021 haben die Islamisten endlich eine historische Schlappe kassiert. Zuvor waren sie stärkste Fraktion, jetzt liegen sie auf Platz acht. Eine Frau wurde Bürgermeisterin von Casa. Nabila Rmili ist Notärztin. Die Symbolik könnte kaum treffender sein.

Casablanca, das ist auch die Nacht. Oder vielmehr die Nächte. Vielgestaltig auch sie. Quirlig, rauschhaft, beschwingt, prassend, bodenlos, rau, klangvoll. Neonlichter. Taxis. Sirenengeheul. Musik. Lärm. Übersättigung.

Leute, die aus den Clubs kommen, kreuzen den Weg von solchen, die in die Moschee gehen. Taumelnden Schritts die einen, den Gebetsteppich über der Schulter die anderen. Traurige Huren, müde Nachtschwärmer, geschäftige Gemüsehändler, erschöpfte Arbeiter.

Nachts befreit sich eine ganze Nation, zeigt ihr wahres Gesicht. Ich bin mir nicht sicher, ob die Nächte schöner sind als die Tage; aber sie sind ehrlicher.

Was am Tage als unsittlich gilt, zeigt sich in der Nacht. Alkohol, Prostitution, Homosexualität. Alles, was die mittelalterlichen Gesetze unter Strafe stellen, alles, was der Anstand nicht sehen will, alles, wovon die gesellschaftliche Heuchelei schweigt. Alles, was im Sonnenlicht nicht sein darf, kommt im Licht der Stroboskope oder auf der Rückbank im Auto hervor.

Casa ist eine Stadt, die dich aufsaugen kann. Dich zermalmen kann.

Mit ihren bunten Graffiti an den Wänden. Ihrem Lärm und ihren Gerüchen. Ihrem Leben. Ihrer Redeweise. Slang. Guttural. Schnell. Ein bisschen vulgär. Die Laute werden verschluckt, entstellt. Eine verdammt lebendige Sprache.

Ich schreibe euch aus Casa. Dieser Stadt, in der ich geboren wurde, in der ich aufgewachsen bin, in der mein Vater begraben liegt.

Ich glaube, dass ich diese Stadt sehr liebe.

Aus dem Französischen von Anna Lerch

Fatym Layachi ist Regisseurin, Schauspielerin und Kolumnistin bei der marokkanischen Wochenzeitung TelQuel.

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