Brief aus Belgrad

Le Monde diplomatique –

Europride in Belgrad, Serbien
Die Europride, die angeblich nicht stattfand Foto: GEOFFREY BROSSARD/picture alliance/Hans Lucas/Nangka Press

Seitdem ich 1978 in Belgrad geboren wurde, habe ich, obwohl ich nie weggezogen bin, in vier verschiedenen Staaten gelebt: in der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (1945–1992), in der Bundesrepublik Jugoslawien (1992–2003), in der Staatenunion Serbien und Montenegro (2003–2006) und in der Republik Serbien (seit 2006). Das Land, in dem ich lebe, war zunächst sozialistisch, dann postsozialistisch; heute befindet es sich immer noch in der schmerzhaften Übergangsphase zum Vollkapitalismus.

Dabei wurde mein Land, anders als die Staaten hinter dem Eisernen Vorhang, nie von Moskau gesteuert. Das wird rückblickend häufig als jugoslawische Besonderheit hervorgehoben, aber meine Generation ist stärker durch eine andere Jugo-Spezialität geprägt: den Zerfall der Föderation im Zuge militärischer Aktionen, die man heute gemeinhin als „jugoslawische Nachfolgekriege“ bezeichnet. Allerdings befand sich Belgrad offiziell nie im Krieg, sieht man von der Zeitspanne zwischen dem 24. März und dem 10. Juni 1999 ab, als die Nato ihren Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien führte.

Dieser biografische Abriss mag als eine Art Musterausweis dienen, den heute mehrere Generationen von Serbinnen und Serben mit sich tragen. Er könnte auch erklären helfen, warum mein Land im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine eine einzigartige Position bezieht: Serbien ist der einzige europäische Staat, der in der Konfrontation zwischen Nato und Russland neutral bleibt, obwohl er ständig gedrängt wird, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU einschließlich der Sanktionen mitzutragen.

Diese neutrale Position ist freilich eine höchst paradoxe, insbesondere angesichts der aktuellen Konflikte in und um den Kosovo. Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine hört man immer wieder das Argument: „Wir Serben“ wissen genau, was Sanktionen bedeuten, da wir selbst zweimal unter harten internationalen Embargos gelitten haben. Aber „wir“ haben auch die Bombardierung durch die Nato erlebt, weshalb wir nicht voll auf der Seite derer stehen können, die heute die Ukraine bombardieren.

Da es der Westen war, der uns bombardiert und boykottiert hat, und da es die Nato ist, die im aktuellen Krieg von russischen wie serbischen Demagogen als Hauptfeind Russlands dargestellt wird, haben Belgrad und Moskau einen gemeinsamen Feind. Wobei aus serbischer Perspektive noch etwas hinzukommt: Für unser Land, das angeblich nie Kriege geführt, gleichwohl aber alle verloren hat, ist Russland der große Bruder, der uns rächen wird – durch einen Sieg, der dem kleineren Bruder nie vergönnt war.

Obwohl gemeinhin angenommen wird, die Unterstützung Serbiens für Russland basiere auf dem gemeinsamen orthodoxen Glauben, will ich eine andere Interpretation vorschlagen. Ein zentrales Herrschaftsinstrument unseres Präsidenten Aleksandar Vučić, dessen autoritäres Regime bereits volle zehn Jahre andauert, ist das geschickte Schüren von Vorurteilen und Ängsten sowie die Zersetzung von sozialen Netzen und solidarischen Strukturen. Deshalb ist ein Hauptmerkmal der heutigen serbischen Gesellschaft die Allgegenwart von Gewalt, die man sich weder eingesteht noch thematisiert.

Die Gewalt ist da, weil wir nie begonnen haben, die Traumata der Kriege und der Isolation aufzuarbeiten. Nach dem Fall des Milošević-Regimes lautete der gesellschaftliche Konsens: Die Jugoslawienkriege sind vorbei. Zwanzig Jahre später leben wir so, als hätte es sie nie gegeben. Der einzige „Krieg“, an den man sich erinnern darf, ist die ­„Aggression der Nato“ – als ob die Bomben damals aus dem Nichts gefallen wären.

Diese Auslöschung eines Teils unserer Geschichte, die tagtäglich umgeschrieben wird, um die Wut der Menschen anzustacheln und ihre Opfermentalität zu bestärken, ist nur die eine Ursache der Gewalt. Die andere ist die Kluft zwischen Arm und Reich, die größer ist als je zuvor. Die wachsende strukturelle Ungleichheit, die uns der laufende Transformationsprozess beschert, prägt das Gespür für das, was erlaubt, erwünscht und möglich ist – und zwar gleichermaßen für die Verlierer und die Gewinner dieser Entwicklung.

Letztendlich ist die Gewalt auch deshalb allgegenwärtig, weil jede und jeder von uns täglich die Gewalt erfährt, die dem gesunden Menschenverstand angetan wird. Die Regierung erzählt uns, dass Serbien ein wirtschaftlicher Gigant ist, und im selben Atemzug, dass wir im Winter hungern werden. Im Oktober machten alle regierungstreuen Zeitungen mit der Schlagzeile auf, Großbritannien habe Russland den Krieg erklärt. Bekamen die Leute einen Schreck? Versuchten sie, die Information zu überprüfen? Nein, sie blieben gleichgültig. Die endlose Folge von politischen Krisen, Gesetzesbrüchen und Verfassungsverstößen, strapaziert unser Urteilsvermögen so unablässig, dass uns mittlerweile alles egal ist. Wir haben unser Gehirn abgeschaltet.

Stattdessen hat sich in uns eine politisch gewollte Hilflosigkeit eingenistet, die eine gefährliche Mischung aus Melancholie und Gewalt hervorbringt. Hier liegt, wie ich vermute, die Ursache unserer Gefühllosigkeit für das Leiden anderer, aber auch unseres triefenden Selbstmitleids, das auf Anerkennung unserer Opferrolle und auf Rache drängt.

Bei Russlands Krieg gegen die Ukraine geht es deshalb gar nicht um die Ukraine. Es geht um uns, um das, was man uns angetan hat, um unsere Verbitterung. Und dieses Gefühl soll nicht überwunden, sondern befeuert werden, weil es sich als zuverlässiges Instrument der politischen Manipulation bewährt hat.

Nichts ist in Serbien das, was es zu sein scheint – und erst recht nicht das, was es sein sollte. Das gilt auch für die Erscheinung, die mir als Feministin am schwersten zu schaffen macht. Ich meine die „doppelte Errungenschaft“, die Serbiens Ministerpräsidentin Ana Brnabić verkörpert.

Brnabić ist die erste Frau an der Spitze der Regierung und die erste, die sich offen als Lesbe bekennt. Während ihrer Amtszeit wurde sie Mutter eines Kindes, das ihre Partnerin geboren hat. Wohlgemerkt in einem Land, das keine gesetzlich anerkannte gleichgeschlechtliche Partnerschaft kennt. Und doch hat diese Regierungschefin praktisch nichts getan, um die Lage der Frauen und der LGBTQI-Community zu verbessern.

Innerhalb Serbiens gilt der Fall Brnabić nur als Beleg dafür, dass die Mächtigen ungeachtet aller Gesetze machen können, was sie wollen; auf internationaler Ebene dagegen mutet er wie eine geschickte Inszenierung von Gender Equality an – eine politische Show, mit der die neue Generation von Belgrader Technokraten demonstrieren will, dass sie ihre westlichen Mentoren in Sachen Fortschrittlichkeit überholt hat. Immerhin besteht die Brnabić-Regierung, ebenso wie das serbische Parlament, fast zur Hälfte aus Frauen.

Die krasseste Pointe dieser politischen Travestie wurde Mitte August 2022 geboten. Auf derselben Pressekonferenz, auf der Ana Brnabić ihre Bewerbung um eine dritte Amtszeit verkünden ließ, erfolgte die Absage der für den 17. September geplanten Europride-Parade.

Als die Europride 2019 an Serbien vergeben wurde, schien das für Vučić und die von ihm kontrollierte Regierung ein guter Deal zu sein: eine weitere Etappe auf dem Weg Richtung EU-Beitritt. Aber 2022 wütet der Krieg in der Ukraine und ein Großteil der serbischen Bevölkerung, vorneweg die serbisch-orthodoxe Kirche, steht aufseiten Russlands.

Angesichts dieser Stimmung im Volk bereitete die Europride der Regierung erhebliche Kopfschmerzen. Tausende Menschen gingen auf die Straße, um ein Verbot zu fordern. Wer genau hinter dem „Marsch für die Rettung Serbiens“ stand, war unklar. Doch die russischen Fahnen, die Plakate mit Putin-Konterfei und die „Kosovo ist Serbien“-Banner, mit denen die Demonstranten ihre Empörung über die angeblich „dämonische“ Europride zur Schau stellten, machten eines deutlich: Die Unterstützung für Russland und der erbitterte Widerstand gegen LGBTQI-Rechte gehören in Serbien untrennbar zusammen.

Umfragen zeigen, dass hier die Mehrheit gegen die Minderheit auf die Barrikaden ging. 85 Prozent der serbischen Bevölkerung bekennen sich als Serbisch-Orthodoxe, das ist in etwa auch der Anteil derer, die Sanktionen gegen Russland (80 Prozent) oder Pride-Paraden (75 Prozent) ablehnen.

Ich traf mich am Tag der Europride mit zwei Freundinnen, um an der abgesagten Parade teilzunehmen. Allerdings wussten wir nicht, ob die Polizei präsent sein, uns schützen oder angreifen würde. Bei dieser vagen Informationslage musste man eher blind als mutig sein, um sich auf das Abenteuer einzulassen.

Es stellte sich heraus, dass das Stadtzentrum fast komplett von Polizeikräften abgeriegelt war. Nur einige tausend Menschen, viele von ihnen aus dem Ausland angereist, wurden ins Zentrum gelassen und konnten, eingepfercht zwischen Polizeiketten, den Marsch absolvieren. Wenn auch nur über 150 Meter und ohne die gewohnt ausgelassene Atmosphäre.

Die Farben des Regenbogens gingen in der Trostlosigkeit eines Regentags unter. Und das Dauerläuten der St.-Markus-Kirche sollte uns bedeuten, dass wir nicht hier hingehören, dass wir in unserem eigenen Land Fremde sind.

Tags darauf ließ der Innenminister verlautbaren, es habe keine Parade stattgefunden. Die Polizei habe die Fremden lediglich zum Ort jenes Konzerts „eskortiert“, das an diesem Tag die einzige genehmigte Veranstaltung für unser ansonsten unerwünschtes Völkchen gewesen sei.

Zu diesem Konzert hatten sich demonstrativ auch der US-Botschafter und Vertreterinnen der EU eingefunden. Die Botschafter Russlands und Chinas waren wenige Stunden zuvor bei einem anderen Volksauflauf zugegen: Bei der Zeremonie für die Vereidigung junger Kadetten saßen sie nebeneinander auf der Tribüne, in unmittelbarer Nähe des serbischen Präsidenten. Die Premierministerin und ihre Partnerin dagegen – denen man als Paar symbolisch das Existenzrecht im eigenen Lande abgesprochen hatte – repräsentierten die Republik Serbien zwei Tage später beim Staatsbegräbnis von Königin Elisabeth II. in London.

Diese triste Burleske vereint in sich alle Paradoxien, die den serbischen Alltag strapazieren, die tägliche Gewalt reproduzieren und die Menschen zu melancholischen, zynischen, verarmten Wesen machen, denen jede Lust auf Veränderung vergangen ist.

Dabei gab es in Serbien mehrere Generationen, die eine gerechte Gesellschaft aufbauen, soziale Ungleichheiten abbauen und ihre Vergangenheit ehrlich aufarbeiten wollten. Diese Menschen fühlen sich heute ausgelaugt und starren in einen Abgrund, der ihre Zukunft sein soll.

Was wir in Serbien seit etwa einem Jahrzehnt erleben, ist so etwas wie eine Sonnenfinsternis: Das ersehnte Licht der Aufklärung, das nie allzu stark über diesem Land schien, ist vollständig verschwunden, der Horizont verdunkelt, unser aller Leben verfinstert statt zum Lichte strebend. Solche düsteren Aussichten spiegeln sich bereits in meinem Belgrader Bekanntenkreis wider, der zwischen innerer Emigration und dem Aufbau einer beruflichen Zukunft im Ausland schwankt. Die meisten von ihnen – und das ist die eigentliche Tragödie – gehörten einst zu den aktivsten Kräften der Zivilgesellschaft.

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

Adriana Zaharijević ist Forscherin am Institut für Philosophie und Sozialtheorie an der Universität Belgrad.

Der Originalbeitrag wurde für die Association for Women Slavic Studies verfasst; für die deutsche Übersetzung LMd, Berlin.